Der Oberste Gerichtshof hat entschieden, dass die Lebenshilfe bei einem Unfall eines Mannes mit Behinderung nicht haftbar ist, weil die Selbstbestimmung erwachsener Menschen mit Behinderung mehr wiegt als die Aufsichtspflicht.
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Es ist ein skurriler Fall, mit dem sich der OGH beschäftigen musste: Ein Mann mit Behinderung, der ein Klient eines Arbeitsstandorts der Lebenshilfe Tirol ist, ging über die Straße zum Supermarkt, ohne den Zebrastreifen zu benutzen. Er wurde angefahren und schwer verletzt. Die Fahrzeughalterin klagte die Lebenshilfe Tirol wegen Verletzung der Aufsichtspflicht auf Schadenersatz. Sie war der Meinung, der 23-jährige Mann hätte nicht allein zum Supermarkt gehen dürfen.

Den Alltag selbstbestimmt gestalten, öffentliche Verkehrsmittel nutzen, einkaufen, arbeiten oder Veranstaltungen besuchen – das ist für viele Menschen mit Behinderungen auch heute noch keine Selbstverständlichkeit. Obwohl das Recht auf Selbstbestimmung und Teilhabe in der UN-Behindertenrechtskonvention verankert ist. Die Lebenshilfe Tirol nehme das sehr ernst und wolle Klientinnen und Klienten ein möglichst selbstbestimmtes Leben ermöglichen.

Monatelanges Verkehrstraining

Der betroffene Klient äußerte vor fünf Jahren den Wunsch, allein einkaufen gehen zu wollen. Gemeinsam mit den Assistentinnen und Assistenten übte er über fünf Monate lang, den Weg zum Supermarkt sicher zurückzulegen und auch den Zebrastreifen zu benutzen. Der Trainingsverlauf wurde auch schriftlich dokumentiert. "Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Lebenshilfe zogen sich immer weiter zurück, bis sie der Meinung waren, dass er das allein kann", erläutert Gregor Riedmann von der Lebenshilfe Tirol. Monatelang ging der 23-Jährige schließlich allein zum Supermarkt. Am 15. Oktober 2018 ist er aber auf die Straße gelaufen und hat nicht wie eingeübt den Zebrastreifen benutzt. Der junge Mann wurde schwer verletzt. Nun sei er aber wieder bei bester Gesundheit, betont Riedmann.

Am Tag des Unfalls hat der 23-Jährige nicht wie geübt den Zebrastreifen genutzt.
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Nach dem Unfall ist jedoch eine zivilrechtliche Klage bei der Lebenshilfe Tirol gelandet. Die Fahrzeughalterin forderte von der Behinderteneinrichtung 3.500 Euro Schadenersatz wegen der Beschädigung des Fahrzeugs und 2.000 Euro wegen der psychischen Belastung des Unfalls für sie und den Fahrer. Das Bezirksgericht wies die Klage ab. Die Lenkerin legte Berufung ein. Das Berufungsgericht wiederum hat der Klägerin recht gegeben. "Wir waren gezwungen, zum Obersten Gerichtshof zu gehen und das grundsätzlich klären zu lassen", betont Riedmann von der Lebenshilfe Tirol.

Selbstbestimmung wichtiger als Aufsicht

Mit Erfolg. Der OGH hat der Revision Folge geleistet und der beklagten Lebenshilfe recht gegeben. Das Höchstgericht legte in einem sehr umfassenden Urteil dar, dass für Behinderteneinrichtungen keine Aufsichtspflicht anzuwenden sei, wie sie etwa Eltern über Kinder haben. Alle Maßnahmen der Beaufsichtigungs- und Betreuungspflicht seien aber grundsätzlich begrenzt durch das verfassungsrechtlich verankerte Recht auf Selbstbestimmung, heißt es im Urteil des OGH vom 20. September 2023.

Eine Haftung einer Betreuungseinrichtung, weil die betreute volljährige Person einen Schaden verursache, komme nur bei Verletzung allgemeiner Verkehrssicherungspflichten in Betracht, wobei auch hier die Wertungen der UN-Behindertenkonvention zu berücksichtigen sind. "Es ist nicht Aufgabe der (professionellen) Pflege und Betreuung, alle Risiken gegenüber außenstehenden Dritten auszuschließen, weil dies auf Kosten der Selbstbestimmung des volljährigen Behinderten ginge und mit jeder Sicherheitsmaßnahme regelmäßig auch Eingriffe in die Freiheitsrechte des Betroffenen verbunden wären."

Menschen nicht in Watte packen

Das Urteil zeige, dass die Selbstbestimmung von Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung Vorrang habe vor der allgemeinen Verkehrssicherheit, zeigt sich Gregor Riedmann von der Lebenshilfe zufrieden. Es bestärke die Lebenshilfe, weitere Inklusion und Teilhabe zu ermöglichen. Erstmals sei höchstgerichtlich die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung herangezogen worden.

"Das Thema Inklusion wiegt höher, als jemanden in Watte zu packen und die Aufsichtspflicht zu haben", sagt der Geschäftsführer der Lebenshilfe Tirol, Georg Willeit, zu den Folgen des Urteils. Für die Lebenshilfe bringe dieses richtungsweisende Urteil auch ein großes Maß an Erleichterung mit sich, "weil wir oft in diesem Zwiespalt stehen". Es sei eine lange Forderung der Lebenshilfe, Menschen mit Behinderung erwachsen werden zu lassen. "Nun sind sie in der höchstgerichtlichen Rechtsprechung Erwachsene geworden, weil sie nicht mehr aufsichtspflichtig sind wie Kinder", betont Willeit.

Der Generalsekretär der Lebenshilfe Österreich, Philipp Narval, spricht von einem Meilenstein der Inklusion in Österreich. "Wir gratulieren der Lebenshilfe Tirol für den Mut und den langen Atem, ein OGH-Urteil herbeizuführen. Wenn sich die Gesellschaft nicht bewegt, um mehr Inklusion zu ermöglichen, müssen das Gerichte entscheiden." (Stefanie Ruep, 28.2.2024)