"Dungeons & Dragons" bietet weit mehr als nur Kämpfe. Es geht darum, ein gemeinsames Abenteuer mit Freunden zu erleben, sei es in einem klassischen Krimiplot einen Mordfall in einer Taverne zu klären oder den ultimativen Oberschurken auszutricksen.
Wizards of the Coast

Vecna – wer die jüngste Staffel von "Stranger Things" geschaut hat, dem dürfte bei dem Namen wohl ein wenig das Gruseln kommen, schließlich handelt es sich um ein Monster, das eine ganze Kleinstadt terrorisiert und von einer Gruppe Teenager aufgehalten werden will.

Wobei der Begriff "Monster" in diesem Fall nicht wertend zu verstehen ist, schließlich handelt es sich bei Vecna (gesprochen mit k) selbst um eine tragische Figur. "Monster" steht aber im Sprachgebrauch von "Dungeons & Dragons" ganz neutral für Gegner, sei es Mensch, Elf, Zwerg oder eben ein verunglücktes Experiment wahnsinniger Wissenschafter wie eben Vecna. "Stranger Things" würde ohne "Dungeons & Dragons" nicht funktionieren. Mehr noch: Unsere Welt wäre ohne das Rollenspiel nicht dieselbe.

Fast grenzenlose Fantasie

Wenn Sie sich jetzt fragen: Was beim tentakelbewehrten Beholder ist "Dungeons & Dragons"? Dabei handelt es sich um ein sogenanntes Pen-and-Paper-Rollenspiel. Die Idee ist simpel: Zum Spielen braucht man nicht viel mehr als einen Bleistift (Pen), einen Charakterbogen (Paper) und einen Satz Würfel mit unterschiedlichen Seitenzahlen.

Es gibt einen Spielleiter, etwas pathetisch "Dungeon Master" genannt und meist drei bis fünf Mitspielende, die ihre Helden verkörpern. Der Reiz daran: Wer schon immer einmal "Conan der Barbar" imitieren und seine Gegner vor sich hertreiben wollte, kann das tun. Ein gebildeter Magier, der seinem Hobby, der Archäologie, nachgeht? Kein Problem. Ein durchgeknallter Barde, der in Wahrheit ein weltweit gesuchter Einbrecherkönig ist? Viel Spaß damit.

Der Fantasie werden nur durch mehr oder weniger schlanke Regeln Grenzen gesetzt. Der Spielleiter setzt den Rahmen für eine Geschichte, die Heldinnen und Helden können in ihrer Welt im Grunde das machen, was sie wollen und was zu ihrem Charakter, ihrer Rolle, passt. Alles weitere spielt sich in der Fantasie der Beteiligten ab. Man muss nicht extra dazu erwähnen, dass dabei die absurdesten, chaotischsten und lustigsten Szenen entstehen.

Echte Tränen

Ein Beispiel: In der "Dungeons & Dragons"-Runde des STANDARD (ja, auch wir frönen dem gepflegten Rollenspiel) wurde im Rahmen eines Abenteuers ein Spielcharakter von einer ganzen Horde von eiskalten Händchen wie in der "Addams Family" angefallen. Eine Hand hat sich sogar am Gesicht des Magiers festgekrallt. Der Krieger der Truppe, mit mehr Selbstbewusstsein als Hirnschmalz ausgestattet, kam auf die glorreiche Idee, seinen Revolver zu zücken, um seinem Mithelden das Patschehändchen aus dem Gesicht zu schießen. Motto: "Was kann da schon schiefgehen?" Tatsächlich gelang dieser meisterliche Schuss in Form eines Würfelwurfs am Spieltisch. Wäre das schiefgegangen, hätte die ganze Geschichte einen anderen Ausgang genommen.

Echte Emotionen gehören beim Rollenspiel dazu.
Siren Games

Manche Szenen gehen aber allen Beteiligten nahe. Kaspar Kausl ist auch beruflich in der Welt von "Dungeons & Dragons" zu Hause, denn er arbeitet bei Sirengames, einem Fachgeschäft für Tabletop- und Rollenspiele in Wien. Er berichtet von einer besonders dramatischen Szene: "Nach einem langen Wettlauf gegen einen Bösewicht fand meine Gruppe als Erstes das Versteck einer heiligen Reliquie. Die brennende Schwingenfeder einer Sonnengöttin. Nach kurzer Beratung waren sich meine Spieler einig, dass die Feder in Sicherheit gebracht werden musste, und zwar in einen Tempel, etwa eine halbe Tagesreise entfernt. Als eine Spielerin die Feder jedoch ergriff, wurden ihre Hand und ihr Unterarm von der enormen heiligen Energie der Reliquie augenblicklich verbrannt. Unfähig, die Feder wieder loszulassen, blieb ihnen nichts anderes übrig, als sich so schnell wie möglich auf den Weg zu machen, während das Artefakt ihren Körper langsam zu Kohle verbrannte. Die folgenden Stunden arteten zu einer Mathematikstunde aus, in der meine Spieler verzweifelt gegen den kontinuierlich höher werdenden Schaden der Reliquie ankämpften. Nachdem kein Spieler mehr Kraft hatte, um zu heilen, verwendeten sie auf den letzten Metern zum Tempel ihre letzten Heiltränke, um die Trägerin irgendwie am Leben zu halten. Sich ihrem Schicksal ergebend, aber nach erfüllter Aufgabe, starb ihr Charakter vor dem Altar des Tempels. Ohne weiter abzuschweifen, war dies zwar nicht das Ende des Charakters, aber dennoch eine der intensivsten und dramatischsten Erfahrungen, die ich bisher mit meinen Spielern teilen durfte. Am Ende war nicht mehr zu unterscheiden zwischen den Emotionen der Charaktere und den Spielern, die sie verkörperten, und es flossen einige echte Tränen an diesem Abend."

Manchmal sind es aber auch die kleinen, beiläufigen Szenen, die für immer im Gedächtnis bleiben, wie Lukas Albrecht, ebenfalls von Sirengames, aus seiner langjährigen Erfahrung als Dungeon Master berichtet: "Als meine Spieler auf einem Jahrmarkt auf ein Glücksspiel stießen, bei dem man auf Mäuse wettet, die durch ein Labyrinth laufen, entschlossen sie sich kurzerhand, den Druiden, der sich in eine exakte Kopie einer der Rennmäuse verwandelte, heimlich auszutauschen. Innerhalb weniger Minuten hatten sie ihr Gold verdreifacht und machten sich schlussendlich unbemerkt davon. Was meinerseits als unschuldiger kleiner Zeitvertreib geplant war, wurde durch die Kreativität meiner Spieler zu einer aberwitzigen und unvergesslichen Erinnerung."

Ein bewegtes halbes Jahrhundert

Eigentlich gehen die Ursprünge von "Dungeons & Dragons" auf die 60er-Jahre zurück. Damals befasste sich der US-Amerikaner mit Schweizer Abstammung Gary Gygax mit Konfliktsimulationsspielen. Diese wurden damals vor allem zur Ausbildung von Offizieren eingesetzt. Dave Arneson baute das Regelwerk um, sodass man auch mittelalterliche Schlachten nachspielen konnte, und nannte sein Spiel "Chainmail". Gigax modifizierte das System weiter, weil er auf die Idee kam, dass ein kleiner Kommandotrupp eine Festung infiltrieren und dabei Fallen und Widersacher ausschalten musste. Damit wuchs auch die Identifikation mit einzelnen Spielfiguren.

Natürlich dürfen gewaltige Drachen nicht fehlen.
Wizards of the Coast

Das Konzept ging auf, und Arneson und Gygax nannten ihre Schöpfung "The Fantasy Game". Zum Glück schritt Gigax Gattin Mary Jo ein und schlug den etwas eingängigeren Namen "Dungeons & Dragons" vor. Das war 1974, und der Erfolg ließ nicht lange auf sich warten, denn ein Jahr später wurden Ian Livingstone und Steve Jackson auf das Spiel aufmerksam. Sie hatten sich gerade mit ihrer kleinen Spieleschmiede namens Games Workshop selbstständig gemacht und vermarkteten "Dungeons & Dragons" in Großbritannien, wo es zum durchschlagenden Erfolg wurde. Der deutschsprachige Raum musste aber noch neun weitere Jahre warten, bis das Rollenspiel auch hierzulande aufschlug. Der Rest ist Geschichte: Games Workshop ist mittlerweile für das "Warhammer"-Universum berühmt und berüchtigt. "Dungeons & Dragons" ging mit Gygax' Firma an Wizards of the Coast.

Kontroversen und der Streisand-Effekt

"Dungeons & Dragons" ist monetär keine große Goldgrube. Mit einem jährlichen Umsatz von 100 bis 150 Millionen US-Dollar macht es nur etwa ein Zehntel der Einnahmen von Wizards of the Coast aus. Kein Wunder: Wer einmal in die Regelbücher investiert, hat schon eine gute Basis, und mit einem offiziellen Kampagnenband dürften die meisten Spielgruppen ohnehin über Monate beschäftigt sein. Außerdem gibt es einen stetigen Nachschub an vorgefertigten Abenteuern aus der Community. Das Spielsystem ist nämlich seit gut 20 Jahren unter der Open-Game-License. Der Verlag erlaubt es Spielerinnen und Spielerin im Wesentlichen, die Inhalte wie die Grundregeln zu nehmen und in eigenen Publikationen zu verwenden und zu verändern. So konnte etwa das ebenfalls sehr populäre Rollenspiel "Pathfinder" entstehen, das lose auf "Dungeons & Dragons" beruht. Angeblich gab es interne Pläne von Wizards of the Coast, die Lizenz auslaufen zu lassen. Der Proteststurm war immens. DER STANDARD berichtete.

Einen enormen Popularitätsschub erfuhr das Spiel in den USA durch eine weitere Kontroverse. In den 80er-Jahren brachte evangelikale Kreise "Dungeons & Dragons" mit Kinderopfern und Satanskulten in Verbindung. Dazu kam im prüden Amerika noch das Problem, dass auf manchen Darstellungen von Monstern angedeutete Geschlechtsteile und nackte Brüste zu sehen waren. In der dritten Edition des Spiels wurde deshalb auf die Bezeichnung "Dämonen" und "Teufel" für Monster verzichtet.

Auf dem Höhepunkt der "Satanic Panic" wurden Mordfälle und Suizide mit dem Rollenspiel in Verbindung gebracht, ganz ähnlich der Killerspieldebatte der 2000er-Jahre im deutschsprachigen Raum. Irgendwelche Teufelskulte konnten freilich nie nachgewiesen werden. Von der Satanic Panic blieb der Streisand-Effekt, und das Spiel wurde immer populärer. Auch die Wissenschaft begann, sich für das Thema zu interessieren. Schon relativ bald wurde klar: "Dungeons & Dragon" haben, wie andere Pen-and-Paper-Rollenspiele auch, einen positiven Effekt auf ansonsten introvertierte Menschen, weil sie zu wöchentlichen oder vierzehntägigen Sozialkontakten animieren, wie Aubrey Adams von der University of California in einer Studie herausfand. Die Psychologin Jennifer Cole Wright attestiert in ihrer Studie Rollenspielen einen positiven Effekt auf die Problemlösungskompetenz.

So klappt der Einstieg in die Welt der Kerker und Drachen

Mit dem ausgezeichneten dritten Teil der "Baldur's Gate"-Saga und dem ebenfalls empfehlenswerten Film "Honor among Thieves" sowie der bereits erwähnten Netflix-Serie "Stranger Things" ist "Dungeons & Dragons" schon längst außerhalb der eigentlichen Zielgruppe angekommen.

Zum Schluss die wichtigste Frage: Was brauche ich, um selbst eine Runde "Dungeons & Dragons" zu spielen? Die gute Nachricht: außer einer Handvoll Gleichgesinnter nicht viel. Die Grundregeln gibt es gratis, und ein kostenloses Einsteigerabenteuer gibt es obendrein. Ganz klassisch gelingt der Einstieg mit einer eigenen Box am besten, die neben den Würfeln, einem Abenteuer und vorgefertigten Charakteren auch noch Hintergrundmaterial und Hilfestellungen für den angehenden Dungeon Master bietet. Gemeinsam mit Wizards of the Coast verlost DER STANDARD zwei dieser Boxen (siehe unten).

Wer mag, kann sich auch eine Spielrunde mit Jack Black sowie Jay and Silent Bob auf Youtube anschauen.


Wer selbst einmal einer Runde beiwohnen oder nur zuschauen möchte, der kann sich hier verabreden. Viele Fachgeschäfte bieten Spieleabende an, so etwa Sirengames im 16. Bezirk in der Friedmanngasse. Dort ist jeden Mittwoch langer Spieleabend.

Und wer weiß, vielleicht werden Neulinge den Oberschurken Vecna übrigens selbst schon bald besiegen. Zum 50. Geburtstag haben Wizards of the Coast dem Serienbösewicht einen eigenen Band gewidmet. Alles Gute zum Geburtstag, auf weitere 50 Jahre! (Peter Zellinger, 3.3.2024)