Das nach dem Krieg von 2006 abgesteckte Abschreckungsarrangement zwischen Hisbollah und Israel, das fast 17 Jahre die israelisch-libanesische Grenze stabil und relativ ruhig gehalten hatte, kollabierte am 7. Oktober 2023, als die Hamas Südisrael überfiel: Einen Tag später startete die libanesische schiitische Miliz den militärischen Schlagabtausch mit einem Angriff auf die von Israel besetzten Shebaa-Farmen. Das Territorium, auf dem Schläge und Gegenschläge auf beiden Seiten der israelisch-libanesischen Grenze stattfinden, blieb anfangs begrenzt, weitet sich jedoch geografisch aus, auch die Schlagzahl zieht an.

Am Montag griff Israel in Sidon – noch immer Südlibanon, aber nördlich der üblichen Operationszone – eine Fabrik an, am Montag wurde nahe der Grenze eine libanesische Zivilistin getötet, ihr Kind verletzt. Aus Nordisrael sind seit Oktober 100.000 Menschen vor den Raketenschlägen der Hisbollah geflüchtet.

Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah bei einer Videoansprache.
Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah bei einer seiner Reden vor einer Woche, mit der er seine Anhängerschaft bei der Stange hält. Er tritt aus Sicherheitsgründen immer nur via Video auf.
REUTERS/MOHAMED AZAKIR

Die Annahme gilt noch immer, dass keine der beiden Seiten eine Ausweitung zu einem vollen Krieg will, sagte Heiko Wimmen, Leiter des Projekts Irak/Syrien/Libanon für die International Crisis Group (ICG), am Mittwoch im Bruno-Kreisky-Forum für Internationalen Dialog. Israel könne keine zweite Front gebrauchen, und auch die USA warnen Jerusalem vor Überdehnung – und haben gleichzeitig eine militärische Drohkulisse gegen die Hisbollah und deren Sponsor Iran aufgebaut. Die Hisbollah ist der wichtigste regionale Stellvertreter des Iran, und dieser sei bisher nicht gewillt, das Hisbollah-Arsenal – Teherans Zweitschlagspotenzial im Fall eines israelischen Angriffs auf den Iran – zu opfern, sagt Wimmen. Aber die Gefahr einer Eskalation bestehe, eine fehlgeleitete Rakete könne auch ohne politische Absicht dazu führen.

Frankreich prescht vor

Wimmen berichtete bereits im Dezember gemeinsam mit seinem Kollegen David Wood in einer Analyse für die ICG über die diplomatischen Versuche, zumindest zum Status quo ante – der "stabilen Abschreckung" – zurückzukehren. Vor allem Frankreich engagiert sich, auch die USA haben ihren Emissär Amos Hochstein in den Libanon geschickt. Durchbruch gibt es bisher keinen. Vor wenigen Tagen wurden jedoch Details des französischen Plans öffentlich gemacht, vielleicht um Druck aufzubauen. Bisher bleibt die Hisbollah dabei, dass ein Waffenstillstand im Gazastreifen Voraussetzung für Gespräche über neue Arrangements ist.

Die Erwartungen der beiden Kriegsparteien sind weit voneinander entfernt. In Israel ist seit dem Überfall der Hamas sowie seit einschlägigen "Übungen" der Hisbollah an der Grenze die Diskussion lauter geworden, ob eine bloße Rückkehr zum Zustand bis 7. Oktober überhaupt ausreichend sei, erklärt Wimmen. Immerhin hatte man auch die Gefahr durch die Hamas nicht ernst genug genommen. Die Hisbollah hat Uno-Sicherheitsratsresolution 1701, laut der sie sich nach dem Krieg 2006 dreißig Kilometer hinter die Grenze, nördlich des Flusses Litani, hätte zurückziehen müssen, nie erfüllt. Darüber hinaus konnte sie in den Jahren ihres Engagements an der Seite des Assad-Regimes in Syrien ihr Raketenarsenal mit iranischer Hilfe massiv in Quantität und Qualität aufrüsten und sich militärisch weiterentwickeln.

Der Norden Israels

Aus Sicht der Hisbollah ist Resolution 1701 hinfällig. Kein Akteur im Libanon ist stark genug, sie zum Rückzug von der Grenze zu zwingen. Aber auch die israelische Drohung, die Hisbollah militärisch zurückzuwerfen, würde den Norden Israels nicht unbedingt sicher für seine Bewohner und Bewohnerinnen machen. Er könnte zur "shooting zone" werden, befürchtet Wimmen. Sicherheit könne nicht einseitig hergestellt werden, nur durch einen Frieden oder durch Abschreckung, auch das ist eine Art von Kommunikation.

Darauf stützen sich die Versuche, auf diplomatischem Weg die Lage mit minimalen Zugeständnissen beider Seiten zu deeskalieren. Der französische Plan sieht mehrere Stufen vor, deren Umsetzung zehn Tage dauern sollten. Nach der Einstellung des Feuers beider Seiten würde die Hisbollah einen Streifen von zehn Kilometern entlang der Grenze von Kämpfern und Angriffswaffen räumen. Dorthin würden etwa 15.000 Mann der libanesischen Armee nachrücken. Israel würde seine Verletzungen des libanesischen Luftraums, die es auch schon vor dem 7. Oktober regelmäßig gegeben hat, beenden.

Letztlich sollte der Prozess zu einem Anlauf zur Demarkation der libanesisch-israelischen Grenze führen. An der "Blauen Linie" – die im Jahr 2000 nach dem Abzug der israelischen Truppen aus dem Südlibanon von der Uno gezogen wurde – gibt es 13 umstrittene Punkte, erklärt Wimmen. Ein paar sollten leichter zu lösen sein; aber ein Abkommen über die Grenzziehung bleibt nach Ansicht des Experten unrealistisch, allein schon deshalb, weil die Hisbollah Israel ja nicht anerkennt. Außer den Shebaa-Farmen, die allerdings laut Uno nicht zum Libanon, sondern zu Syrien gehören, besetzt Israel im Nordteil des Dorfs Ghajar auf dem Golan ein Stück libanesischen Lands. (Gudrun Harrer, 23.2.2024)