"Lassen Sie uns wieder mehr miteinander reden", appellierte Bundespräsident Alexander Van der Bellen in seiner Neujahrsansprache.
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Bundespräsident Alexander Van der Bellen hat in seiner Neujahrsrede zivilisiertes Verhalten vorgeschlagen. Untereinander, aber auch zwischen den politischen Parteien. Wir sollten weniger übereinander als miteinander reden. Den Wahlbürgern gab er noch den Rat: "Prüfen und beurteilen Sie die wahlwerbenden Parteien bitte auch danach, was sie aus den Menschen hervorholen. Daran kann man ganz gut erkennen, ob es sich um konstruktive Kräfte handelt oder nicht." Dreimal darf man raten, wen Van der Bellen für nicht konstruktiv hält.

Ist das Klima unserer Zeiten so wenig konstruktiv, so aufgeheizt, dass das Staatsoberhaupt extra dazu auffordern muss, sich etwas zivilisierter zu verhalten? War es jemals anders als jetzt? Beide Fragen sind mit Ja zu beantworten.

Eine gewisse Giftigkeit und Neigung zur Polemik gehört zum österreichischen Nationalcharakter. Es gab auch schon Zeiten, da die traditionellen Parteien – Christdemokraten und Sozialdemokraten – besser, konstruktiver zusammengearbeitet haben. Es waren Zeiten eines viel geringeren Wohlstands, auch Zeiten der äußeren Bedrohung, in denen die Existenz eines freien, unabhängigen, friedlichen, wohlhabenden Österreichs nicht als gesichert galt. Da rückte man enger zusammen, schloss den "Burgfrieden".

Angst vor Abstieg

Heute geht es uns ungleich besser, und die größte Angst ist die, dass uns und unseren Kindern ein Abstieg droht. Dass uns jemand das Erreichte wegnehmen will. Dieser jemand sind für viele Menschen "die Migranten", aber auch geheime, dunkle Kräfte, die aus irgendeinem Grund wollen, dass Europa "umgevolkt" oder zumindest von wirtschaftlichen Interessen beherrscht wird. Hier sprießen Verschwörungstheorien, die man unter vernünftigen Menschen nicht für möglich gehalten hätte. "Abgehobene Eliten" in EU, Nato, WHO oder sonst wo würden uns versklaven wollen – damit erzielt die Kickl-FPÖ ihre Erfolge. Nebenan macht Kickl-Vorbild Viktor Orbán überhaupt den Juden Soros für alles Übel verantwortlich. So weit sind wir schon.

Die sogenannten sozialen Medien und die explodierenden kommunikationstechnischen Möglichkeiten haben diese Wahnvorstellungen enorm verstärkt. Wenn man es genauer untersucht, lassen sich die ärgsten Wahnideen auf ein paar Quellen zurückverfolgen, nicht wenige davon aus der Trollfabrik von Wladimir Putin. Aber sie finden ihre Abnehmer.

Was nichts daran ändert, dass wir tatsächlich ernsthaft bedroht sind. Aber nicht von den Chips, die uns angeblich mit der Corona-Impfung eingesetzt werden. Sondern zunächst vom Klimawandel, der nach der neuesten Umfrage aber hauptsächlich den Grünanhängern Sorgen macht. Dann vom Aufkommen aggressiver Expansionisten (Russland, China) und von demokratiefeindlichen Kräften in den westlichen Demokratien. Wenn es blöd läuft in diesem und in den nächsten Jahren, dann wird sich unsere Art zu Leben so gründlich zum Schlechteren verändern, dass wir mit dem Suchen nach Sündenböcken gar nicht nachkommen werden.

Die Mahnungen des Bundespräsidenten gehen auch dahin, nicht Sündenböcke zu suchen, sich nicht im Streit über die falschen Dinge aufzureiben, sondern die kollektive Vernunft walten zu lassen, zu der die Österreicher sehr wohl auch fähig sind. Es liegt an uns. (Hans Rauscher, 2.1.2024)