In sicheren Schreibstuben lässt sich mit Ferndiagnosen zu Kriegen leicht protzen.
In sicheren Schreibstuben lässt sich mit Ferndiagnosen zu Kriegen leicht protzen.
Getty Images, Montage: Der Standard

Zu den schrecklichsten Begleitumständen jedes Krieges zählt die Gewöhnung. Mit der gebotenen Achtsamkeit dessen, der noch die eigene Lethargie für den Beweis von Mut hält, registriert der Beobachter die nämlichen, immer ähnlichen Beschreibungen. Russische Drohnen haben, wie hunderte Male vordem schon, ihre todbringende Last über Kiew oder eine der anderen ukrainischen Großstädte abgeladen. Die Chronik spricht dann meist von einem, mehreren oder auch dutzenden Toten. Das Einheitsgrau der Statistik dominiert. Über das soldatische Sterben an den diversen Fronten schweigen sich die Nachrichtensender mehrheitlich aus.

Es war bekanntlich Karl Kraus – er würde kommendes Jahr 150 Jahre alt –, der angesichts der Weltkriegsgräuel von 1914 bis 1918 der redseligen Schar der Kommentatoren das Mundhalten anschaffte. "Wer etwas zu sagen hat, trete vor und schweige!" Über hundert Jahre später liegen die Verhältnisse zwar anders, aber auch nicht so, als ob man sie nicht wiedererkennte.

Wladimir Putins völlig skrupellos losgetretener Angriffskrieg gegen die Ukraine hat einem ganzen Berufszweig von Kriegsbegleitern zu Brot und einigem Ansehen verholfen. Es sind Ferndiagnostiker, die häufig in Feuilletonstuben sitzen. Die Wärme und die Sicherheit, die dort ihre Füße umspielen, greifen zuverlässig auch von ihren Herzen Besitz.

Und die Folgelasten?

Sie erklären in wohlgeschliffenen Kommentaren, dass die tapferen Verteidiger der Ukraine möglichst keinen Fußbreit Boden an die russischen Aggressoren abzutreten hätten. Und wer wäre man, dieser Diagnose, die auf der vollkommenen Einsicht in die Verwerflichkeit des Putin’schen Übergriffs gründet, die Zustimmung zu versagen?

Der Mut, der dazu vonnöten ist, ist kein besonderer. Er wälzt, mit der besten Absicht, Folgelasten ab.

Als Philosoph Jürgen Habermas gegen Anfang des Jahres für Verhandlungen im Ukrainekrieg plädierte, schlug ihm ein Sturm der Entrüstung entgegen. Dabei hatte der Fürsprecher kommunikativer Übereinkünfte festgestellt: Kein guter Grund, und sei er moralisch noch so plausibel, befreit einen von der "Abwägung der Verhältnismäßigkeit" der in einem Krieg eingesetzten Mittel und Güter. Die schlechthin "zermalmende" Wirkung der Kampfhandlungen kann auch ein moralisch hochstehendes Kriegsziel delegitimieren (wenn auch nicht die Wiederherstellung des ukrainischen Status quo ante vom 23. Februar 2022).

Die Empörung, die daraufhin losbrach, war nicht geeignet, den damals bereits 93 Lenze zählenden Nestor der deutschen Vernunftkritik zu erschüttern. Habermas ist seiner Natur nach unheroisch. Aber er weicht keinesfalls dem schlechteren Argument. Habermas hatte unmissverständlich festgehalten: Es seien sämtliche Unterstützungsmaßnahmen zu treffen, damit die Ukraine den ihr aufgezwungenen Krieg unter keinen Umständen verliere.

Neue Entschiedenheit

Der Mut vieler Kommentatoren verleitet diese dazu, Einwände, die nichts anderes als die Schutzwürdigkeit der Betroffenen im Sinn haben, mit generöser Geste vom Tisch zu fegen. Es sind die Redaktionstische selbst, deren Funktion sich merklich verändert hat. Auf ihnen lagen früher belletristische Neuerscheinungen, zur Beurteilung aufgeblättert. Heute hat man auf ihnen Karten ausgebreitet. Von Berufs wegen Unzuständige stecken Fähnchen in die schraffierten Flächen der Oblaste. Man fühlt sich in die rauchgeschwängerte Atmosphäre von Offizierskasinos zurückversetzt.

Eine neue Entschiedenheit ist es, die den Grundton in den Erörterungen festlegt. Wie weggefegt die romantische Ansicht, die noch Novalis und Adam Müller vom Menschengeschlecht hegten. Ihr zufolge seien wir alle in einem "ewigen Gespräch" miteinander befangen.

Mit solchen Ewigkeitswerten ist es nicht mehr weit her. Angeblich ist es die "Zeit", die von allen, die notgedrungen an ihr teilhaben, eine "Entscheidung" verlangt. Das große Entweder-oder, an dem sich Freund-Feind-Denker wie der Nazi-Staatsrechtler Carl Schmitt (1888–1985) berauschten, ist zurück.

Anderen die Stirn bieten

Anstatt eine Vermischung der Gegensätze anzustreben, wird Stellungnehmenden der Mut zur Einseitigkeit abverlangt. Es ist eine Art Gratismut. Wer ihn fasst und anderen die Stirn bietet, riskiert die Gewalt des nächsten "Shitstorms".

Teilnehmer an den Bekenntnisriten in "Erregungsgemeinschaften" (Peter Sloterdijk) vertrauen nicht so sehr auf die Macht des Arguments. Lieber ersetzen sie es durch das Pathos der Entscheidung. Der Mut, den man aufbringen muss, um auf der moralisch sicheren Seite zu stehen, befreit von lästigen Ambivalenzen. Lieber schreibt und diskutiert man "förmlich Schulter an Schulter", wie das Karl Kraus nannte, mit denen, die man im Recht wähnt.

Das Prinzip ist denkbar einfach. Es meint vornehmlich jene Form der Courage, die sich im Tone der Entrüstung kundgibt. Man weiß, wie man es mit etwas hält, indem man weiß, mit wem man es hält. Im Zweifelsfall müssen die solcherart Erkorenen für Kosten an Leib, Hab, Gut und Leben aufkommen. (Ronald Pohl, 31.12.2023)