Angesichts des Krieges zwischen Israel und der Hamas hat sich die weltweite Aufmerksamkeit weitgehend von der Ukraine nach Gaza verlagert. Das ist verständlich, doch wäre es ein Fehler, die Situation in der Ukraine aus dem Blick zu verlieren. Anlässlich des nahenden zweiten Jahrestags von Wladimir Putins Angriffskrieg ist es wichtig zu verstehen, warum die beispiellosen westlichen Sanktionen gegenüber Russland eine derart begrenzte Wirkung hatten.

Entgegen den Erwartungen von Analysten ist die russische Wirtschaft infolge der westlichen Sanktionen nicht zusammengebrochen. Stattdessen wächst sie weiter, wenn auch langsamer. Ein offensichtlicher Grund hierfür ist, dass die Nachfrage nach russischen Exporten – insbesondere Öl und Gas – stark bleibt und diese Produkte austauschbar sind. Wenn Europa den Kauf von russischem Öl und Gas einschränkt, kann Russland andere willige Abnehmer wie Indien und China dafür finden.

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Die Handelsbeziehungen zu China sind nicht nur in den USA ein großes Thema. Wie agiert Europa?
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Die bemerkenswerte Ausnahme ist das schwieriger zu transportierende Erdgas. Vor seinem Einmarsch in der Ukraine war Russland Europas größter Energielieferant und lieferte mehr als 40 Prozent des Erdgases der Europäischen Union. Im Sommer 2022 versuchte Russland, Europa zu "sanktionieren", indem es seine Gaslieferungen zurückfuhr und schließlich einstellte. Dies führte zu einem kurzfristigen steilen Anstieg der weltweiten Gaspreise, zwang europäische Käufer dazu, viel mehr Flüssigerdgas bei anderen Lieferanten zu bestellen, und schürte Befürchtungen, dass die Energieknappheit das Wirtschaftswachstum abwürgen würde, insbesondere in Deutschland.

Doch waren die Auswirkungen auf die europäischen Volkswirtschaften, insbesondere auf die deutsche, weniger schwerwiegend als erwartet. Entgegen einigen Prognosen gab es keine Rezession. Während es etwa die deutschen Unternehmen schafften, ihren Gasverbrauch um 20 Prozent zu senken, sank die industrielle Produktion nicht; Rückgänge in energieintensiven Branchen wurden durch Wachstum in anderen Sektoren ausgeglichen.

Diese Resilienz lässt sich teilweise auf eine Kombination aus gesteigerter Energieeffizienz und der Substitution von Erdgas durch alternative Brennstoffe zurückführen. Zudem sind die Preise für Erdgas wieder auf Vorkriegsniveau gefallen. Dementsprechend führte Russlands Versuch, seine Gasexporte als Waffe gegen Europa einzusetzen, zu Einnahmeverlusten, da sich das Gas, das es früher nach Europa lieferte, nicht ohne weiteres anderswo verkaufen ließ.

Strategische Reserve

Der begrenzte Erfolg der westlichen Sanktionen gegenüber Russland sowie der russischen Gegenmaßnahmen sollte nicht überraschen. Schon viele Länder haben versucht, den Handel als Waffe zu nutzen – mit durchwachsenen Ergebnissen. Zum Beispiel sind Chinas Versuche "wirtschaftlicher Zwangsmaßnahmen" gegenüber Australien wiederholt gescheitert.

Das Argument, dass Europa sein angeblich "naives" Bekenntnis zum Freihandel aufgeben sollte, weil andere Länder den Handel als Waffe nutzen, ist daher weniger überzeugend, als es zunächst scheint. Durch die Schaffung einer strategischen Reserve könnten die europäischen Länder die viel gefürchtete Kontrolle Chinas über kritische Rohstoffe zu einem relativ geringen Preis mildern. Zudem können die Weltmärkte Alternativen für die meisten in China hergestellten Industrieprodukte bieten. Man darf nicht vergessen, dass die großen Industrieproduzenten China kaum unterstützen dürften, falls es beschließen sollte, die EU oder den Westen insgesamt mit Sanktionen zu belegen. Dies gilt insbesondere für Halbleiter, bei denen sich Europa hauptsächlich auf nichtchinesische Quellen stützt. Die Strategie der EU-Kommission, chinesische Importe durch verschiedene Maßnahmen, darunter Antisubventionsuntersuchungen, einzuschränken, macht daher besonders bei für die ökologische Wende wichtigen Produkten wie Solarmodulen und Windturbinen wenig Sinn.

In ähnlicher Weise ist es in den USA inzwischen nahezu unmöglich, eine rationale Debatte über die Handelsbeziehungen zu China zu führen. Offiziell verfolgt die Regierung von Präsident Joe Biden das Ziel, die meisten Handelsbeziehungen aufrechtzuerhalten und zugleich strenge Vorschriften für einige wenige Sektoren durchzusetzen. Der Nationale Sicherheitsberater der USA, Jake Sullivan, hat diese Strategie mit "einem kleinen Hof und einem hohen Zaun" verglichen. In Wahrheit jedoch hat die allgemeine Feindseligkeit gegenüber chinesischen Produkten dazu geführt, dass der "kleine Hof" sich ausgedehnt hat. Ursprünglich zielten die US-Maßnahmen hauptsächlich auf hochmoderne Halbleiter und Equipment zur Chipherstellung, das häufig in Europa hergestellt wird. Inzwischen jedoch umfassen die Bereiche hinter den hohen Zäunen auch Batterien und die gesamte Lieferkette für Elektrofahrzeuge.

Kostspielige Barrieren

Obwohl Chinas Drohungen mit wirtschaftlichen Zwangsmaßnahmen oft übertrieben und normalerweise handzuhaben sind, errichten Europa, die USA und andere westliche Länder weiterhin kostspielige Handelsbarrieren, um diese wahrgenommenen Risiken zu mildern. Selbst diejenigen, die die begrenzte Wirksamkeit der wirtschaftlichen Zwangsmaßnahmen Chinas anerkennen, argumentieren oft, dass Europa den Handel mit China einschränken sollte, um sich auf die umfassenden Sanktionen vorzubereiten, die bei einem Angriff Chinas auf Taiwan verhängt würden.

Doch laufen die westlichen Länder Gefahr, dass ihnen hier Kosten für ein Szenario mit geringer Eintrittswahrscheinlichkeit erwachsen. Die Politik sollte ihre Entscheidungen auf Erfahrung und fundierte wirtschaftliche Logik stützen und nicht auf Spekulationen. Die Vorteile der Aufrechterhaltung der Handelsbeziehungen zu China überwiegen die theoretischen Vorteile größerer geostrategischer Flexibilität bei weitem. (Daniel Gros, 21.12.2023)