Hinweisschilder, Richtungen, Schiff
In welche Richtung soll's gehen? Eine mit dänischen Daten trainierte KI weiß offenbar Bescheid. Der Algorithmus kann Ereignisse im Leben (und die Lebenserwartung) von Menschen vorhersagen.
Foto: imago images / BE&W / Wojtkowski Cezary

Seit vor etwa einem Jahr ChatGPT plötzlich vor uns stand, als wäre es hinter einem Vorhang hervorgesprungen, weicht uns das Thema KI praktisch nicht mehr von der Seite. Es besteht kein Zweifel daran, dass die neue Generation von künstlicher Intelligenz (KI) die Forschung in vielen Disziplinen voranbringt. KIs helfen beim Knacken des genetischen Codes, sie entschlüsseln Keilschrifttafeln, entdecken archäologische Stätten, und sie analysieren unsere Schlafgewohnheiten. Da ist es nur konsequent, dass es ChatGPT auf Liste der wichtigsten Figuren des Wissenschaftsjahrs geschafft hat.

Nachdem verlässliche Prognosen eine Kernkompetenz dieser Systeme sind, stellt sich früher oder später auch die Frage, ob KIs dazu in der Lage sind, künftige Entwicklungen im Leben von einzelnen Menschen vorherzusagen. Eine Forschungsgruppe von mehreren dänischen Universitäten und der Northeastern University in den USA trieb diese Frage ebenfalls um.

Sprach-KI lernt Gesundheitsdaten

Das Team um Sune Lehmann von der Technischen Universität von Kopenhagen (DTU) trainierte daher eine KI, die eigentlich geschaffen wurde, um geschriebene Sprache zu modellieren. Die Informationen, die das System schließlich ausspuckte, decken sich mit Erkenntnissen aus den Sozialwissenschaften. Doch die Forschenden warnen auch vor solchen Technologien. Massive Datenschutzbedenken und viele ethische Fragen säumen diese Entwicklungen.

Die KI, die zum Einsatz kam, war ein sogenanntes Transformermodell, wie auch das berühmte ChatGPT eines ist. Die Technologie ist vergleichsweise jung und wurde erstmals 2017 im Rahmen der Neural-Information-Processing-Systems-Konferenz in Long Beach (Kalifornien) vorgestellt. Transformer gehören zu den Deep-Learning-Systemen und wurden vor allem für die Verarbeitung von natürlicher Sprache entwickelt. Sind Transformer gut trainiert, können sie Fremdsprachen übersetzen, Fragen beantworten, lange Texte zusammenfassen oder eine Unterhaltung führen.

Sechs Millionen Dänen

Das Revolutionäre an solchen Transformern ist der Umgang mit Text: Während ältere neurale Netzwerke einen Satz Wort für Wort abarbeiten und die einzelnen Zeichenfolgen nacheinander bewerten, verarbeitet der Transformer-Algorithmus den kompletten Satz auf einmal und stellt dabei die Beziehungen jedes Wortes zu den anderen Wörtern fest. Ein Verfahren, das auf sogenannter Self-Attention basiert, hilft bei der Bewertung.

Das bei der aktuellen Studie eingesetzte Modell trug den Namen Life2vec. Die Gruppe um Lehmann hat den Algorithmus mit Gesundheitsdaten von sechs Millionen Dänen gefüttert sowie mit Informationen über ihren Status auf dem Arbeitsmarkt. Zunächst absolvierte das Modell ein intensives Training, während dessen es die Muster in dem riesigen Datensatz analysierte.

Prognosen zur Lebenserwartung

Life2vec kodiert die Daten dafür in einem komplexen System von Vektoren, einer mathematischen Struktur, in der die Informationen zum Geburtszeitpunkt, zur Schul- und Ausbildung, zum Gehalt, zur Wohnsituation und zur Gesundheit neu geordnet werden. Das im Fachjournal "Nature Computational Science" präsentierte Ergebnis ist ein System, das Prognosen zu unterschiedlichen Ereignissen einer Person abzugeben vermag – bis hin zu einer Einschätzung des Todeszeitpunktes.

"Wir haben das Modell entwickelt, um herauszufinden, inwieweit wir Ereignisse in der Zukunft auf der Grundlage von Bedingungen und Ereignissen in der Vergangenheit vorhersagen können", sagte Lehmann. "Wissenschaftlich gesehen ist für uns nicht so sehr die Vorhersage selbst spannend, sondern die Aspekte der Daten, die es dem Modell ermöglichen, so präzise Prognosen abzugeben."

Die Vorhersagen von Life2vec waren in Antworten auf allgemeine Fragen verpackt. So sollte das Modell etwa auch die Wahrscheinlichkeit angeben, mit der eine Person "innerhalb von vier Jahren" sterben könnte. Die verschiedenen Prognosen glichen die Wissenschafterinnen und Wissenschafter mit bestehenden Erkenntnissen aus den Sozialwissenschaften ab und stellten dabei signifikante Übereinstimmungen fest.

Leben wie Sätze

Life2vec erkannte beispielsweise richtig, dass Personen in einer Führungsposition oder mit einem hohen Einkommen bei stabilen Bedingungen eine höhere Lebenserwartung haben. Was diese Ergebnisse so spannend mache, sei die Tatsache, dass das menschliche Leben auch als eine lange Abfolge von Ereignissen und Entwicklungen gesehen werden kann, so ähnlich wie ein Satz in einer Sprache aus einer Reihe von Wörtern besteht, erklärten die Forschenden. Für die KI scheint es da keine großen Unterschiede zu geben.

Mehr und vor allem andere Arten von Trainingsinformationen würden die KI noch verlässlicher machen und ganz neue Interaktionen zwischen Sozial- und Gesundheitswissenschaften ermöglichen, sind die Wissenschafter überzeugt. Das Team denkt in diesem Zusammenhang auch an Text und Bilder sowie an Daten über soziale Bindungen und Social-Media-Nutzung.

Ethische Fallstricke

Doch Modelle wie Life2vec werfen auch zahlreiche ethische Fragen auf, warnt das Team um Lehmann. Ehe nicht der Schutz sensibler Daten, der Schutz der Privatsphäre und die Rolle von Verzerrungen in den Daten geklärt seien, sollten solche Systeme nicht zur Bewertung des individuellen Risikos einer Erkrankung oder anderer vermeidbarer Lebensereignisse eingesetzt werden, meinen die Wissenschafter.

Überhaupt stelle sich hier die Frage, ob man mit solchen "Lebensvorhersagen" nicht die Büchse der Pandora öffnet. Wie gehen Regierungen, Versicherungen und Industrie mit solchen "Prognosen" um? Was tun bei schlimmen Vorhersagen? "Das Modell eröffnet wichtige positive und negative Perspektiven, die politisch diskutiert und angegangen werden müssen", sagte Lehmann. Ähnliche Technologien zur Vorhersage von Lebensereignissen und menschlichem Verhalten würden zwar bereits in Technologieunternehmen eingesetzt, doch ChatGPT und Konsorten dürften diese Entwicklung erheblich beschleunigen. (Thomas Bergmayr, 21.12.2023)