Das Interview mit dem STANDARD führt Manfred Nowak per Teams aus seinem Büro in Venedig. Der 73-Jährige ist dort Generalsekretär Global Campus of Human Rights. Der Jurist und Völkerrechtler verfügt über jahrzehntelange Einblicke in die internationale Menschenrechtspolitik, hat schon viele von deren Höhen und Tiefen miterlebt. Angesichts der offenen Infragestellung von Menschenrechten durch Politiker und Demagogen der Rechten warnt er unter anderem vor einem Umkippen der EU.

STANDARD: Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte wurde nach dem Zweiten Weltkrieg verkündet. Heute werden erneut Kriege vom Zaun gebrochen. Warum hat die Menschheit ein so kurzes Gedächtnis?

Manfred Nowak
Manfred Nowak: Apokalyptischen Klimakrisen- oder Nuklearkriegsszenarien setzt Manfred Nowak das "rechtlich bindende normative Gerüst" der Menschenrechte entgegen.
SALVATORE DI NOLFI / Keystone /

Nowak: Das hat wohl damit zu tun, dass es nicht mehr viele Leute gibt, die sich an den Zweiten Weltkrieg erinnern können. Es sind Generationen aufgewachsen, für die Menschenrechte selbstverständlich sind – und die daher aufgehört haben, dafür zu kämpfen. Das unterscheidet sie etwa von Frauen im Iran oder in Afghanistan oder Menschen in Myanmar, die um diese Rechte ringen, weil sie ihnen vorenthalten werden. Außerdem wurde auf der Basis der universellen Erklärung der Menschenrechte sehr viel erreicht: von der Dekolonisierung auf Basis des Selbstbestimmungsrechts der Völker unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen bis zum Ende der Apartheid, der kommunistischen Regime in Mittel- und Osteuropa und der Militärdiktaturen in Lateinamerika.

STANDARD: Heute hingegen wird wieder mit atemberaubender Selbstverständlichkeit gegen die Menschenrechte verstoßen. Ukraine, Naher Osten, Sudan, vielleicht auch bald Venezuela: Wie kommt das?

Nowak: Ich denke, die Menschenrechte haben immer dann ihre revolutionäre Energie entwickelt, wenn der Leidensdruck zu groß war. Das war rund um die Französische Revolution so – oder nach dem Zweiten Weltkrieg. Nimmt der Leidensdruck ab, erscheinen die Rechte nicht mehr so wichtig. Heute steigt der Leidensdruck weltweit wieder. Vielleicht ist bald wieder eine neue Ära der Menschenrechte möglich.

STANDARD: Aber was geschieht bis dahin? Viele Menschen fürchten sich vor den Folgen der Klimaerhitzung oder vor einem Nuklearkrieg.

Nowak: Es stimmt, es kursieren apokalyptische Szenarien, denen zufolge wir alle unaufhaltsam auf den Untergang zugehen. Ich aber meine, dass es für die Bewältigung all dieser riesigen Herausforderungen bereits ein rechtlich bindendes normatives Gerüst gibt: die Menschenrechte. Die Frage ist, was geschehen muss, damit die politisch Verantwortlichen einsehen, dass wir wieder eine große Wende brauchen. Ich setze trotz allem auf die Rationalität der Menschen und glaube, dass wir einen Dritten Weltkrieg oder eine völlige Klimakatastrophe verhindern können, indem wir das globale politische und ökonomische System grundsätzlich verändern und wieder auf die Grundlage von Menschenrechten, Demokratie, Rechtsstaat stellen.

"Die Menschenrechte haben immer dann ihre revolutionäre Energie entwickelt, wenn der Leidensdruck zu groß war."

STANDARD: Dazu müssten unter anderem die Vereinten Nationen wieder schlagkräftiger werden. Wie das?

Nowak: Das Wichtigste wäre die Abschaffung des Vetos im Weltsicherheitsrat und die Aufstockung der Zahl ständiger Mitglieder. Im Sicherheitsrat braucht es statt heute fünf zehn oder mehr ständige Mitglieder, sodass der Globale Süden entsprechend repräsentiert ist. Das Veto wiederum sollte durch eine qualifizierte Mehrheit ersetzt werden, wie es Uno-Generalsekretär Kofi Annan bereits 2005 vorgeschlagen hat. Nur so würde der Sicherheitsrat effizienter. Wir brauchen dringend ein besseres Instrumentarium, um Kriege zu verhindern.

STANDARD: Wie konnte es Ihres Erachtens überhaupt zu einer tiefen Welt- und Menschenrechtskrise wie der aktuellen kommen?

Nowak: Das hat viel mit der massiven Zunahme der ökonomischen Ungleichheit aufgrund der neoliberalen globalen Wirtschafts- und Finanzpolitik zu tun. Diese Politik gefährdet die Menschenrechte und die Demokratie. Als der Neoliberalismus in den 1980er-Jahren aufkam, wollte niemand wahrhaben, dass er den sozialen Zusammenhalt unserer Gesellschaften untergräbt, zu extremer Polarisierung und Radikalisierung führt und das Vertrauen zwischen Menschen, Parteien und Staaten unterminiert, weil die Gesetze des Marktes die Politik bestimmen statt umgekehrt. Aber genau das ist passiert.

STANDARD: In den vergangenen neoliberalen Jahrzehnten kamen jedoch auch Millionen Menschen aus der absoluten Armut heraus. Ist das kein Widerspruch?

Nowak: Nein. Zwar stimmt, dass durch den globalen Kapitalismus die Millenniumsentwicklungsziele, sprich die Halbierung von Armut und Hunger, erreicht wurden – aber nur dank China und zum Teil auch Indien. In Afrika südlich der Sahara ist die Armut nicht wesentlich zurückgegangen. In China wiederum wurde das Ziel durch ein langjähriges Wirtschaftswachstum von über 4,5 Prozent erreicht, das einen Trickle-down-Effekt hatte: Viele wurden unendlich reich, aber es profitierten immer noch Millionen andere. Die Kosten dieser Entwicklung sind hoch: Eine extreme Ausbeutung der Umwelt trägt viel zur zunehmenden Klimakrise bei, und eine ökonomische Krise könnte zu großen sozialen Konflikten führen.

STANDARD: Wie hängt das mit der Schwächung der Menschenrechte zusammen?

Nowak: Die Unterdrückung sozialer Konflikte in China – nicht zuletzt aufgrund der drastischen Covid- Maßnahmen – führte zu einem totalen Überwachungsstaat mit massiven Eingriffen in viele Menschenrechte. Wir sehen diese Tendenz aber auch in anderen Staaten wie Russland, einem extrem neoliberalen Staat. Die Oligarchen haben sich dort stark bereichert, die Armut hat in großen Teilen der Bevölkerung massiv zugenommen. Hinzu kommt ein Regime, das von den Oligarchen abhängig ist – und das noch dazu einen Krieg vom Zaun gebrochen hat. Die Ausschaltung der Meinungsfreiheit und der unabhängigen Justiz führten direkt in die Diktatur. Ähnliche Tendenzen sehen wir auch in anderen Staaten wie der Türkei oder Ungarn und bis vor kurzem auch in Polen.

"Wir brauchen dringend ein besseres Instrumentarium, um Kriege zu verhindern."

STANDARD: Besteht auch in Österreich ein solches Risiko? Immerhin stehen wir hier vor Wahlen, und die FPÖ unter Herbert Kickl hat über 30 Prozent in den Umfragen.

Nowak: Diese Entwicklung ist in ganz Europa zu beobachten. Vergangene Woche habe ich im Europaparlament mit einer Reihe von Abgeordneten gesprochen. Viele halten es für möglich, dass bei den kommenden Europawahlen Parteien, die sich eigentlich gegen Europa aussprechen, die Mehrheit bekommen. Sollte das tatsächlich geschehen, ist die Europäische Union als Friedensprojekt, das die Menschenrechte schützen will, extrem gefährdet.

STANDARD: Die europafeindlichen Kräfte haben vielfach mit dem Thema Asyl und Migration reüssiert. Ist das der springende Punkt?

Nowak: Zum Teil schon. Das Thema hat die Menschen zunehmend verunsichert – auch weil die demokratischen Parteien bisher zu keinem gesamteuropäischen Asyl- und Migrationskonzept fähig waren. Jetzt versuchen etwa Großbritannien und Italien, das Problem nach Ruanda respektive Albanien auszulagern. Aber auch das ist keine wirkliche Lösung.

STANDARD: Auch der Plan von Gerald Knaus nicht, der ein Pilotprojekt für Asylverfahren in Ruanda vorschlägt?

Nowak: Nein. Selbst anerkannte Flüchtlinge sollen laut den Vorstellungen der britischen Regierung nicht aus Ruanda in die EU kommen dürfen. Flüchtlinge müssen jedoch einen legalen Zugang zu einem europäischen Asylverfahren bekommen, wo immer dieses stattfindet. Sie müssen die Chance haben, als anerkannte Flüchtlinge nach Europa zu kommen. (Irene Brickner, 10.12.2023)

Der Artikel wurde am 13.12. um Infos über Manfred Nowaks aktuelle Tätigkeiten ergänzt.