Angesichts der höchst besorgniserregenden Befunde eines neuen Klimareports rechtfertigt William Ripple, Leitautor des Berichts, zunehmend drastische Worte. Die Wissenschaft steht in der Pflicht, sowohl vor existenziellen Bedrohungen zu warnen als auch politische Empfehlungen zu geben (siehe "Höchsttemperaturen wie 2023 gab es womöglich erstmals seit 100.000 Jahren"). Doch welche Zugänge stehen der Politik eigentlich zur Verfügung?

Schlechte Chirurginnen und Chirurgen meinen, jede Krankheit sei mit einer Operation zu heilen. Schlechte Ökonominnen und Ökonomen meinen, jedes soziale und ökologische Problem sei mit demselben Methodenkoffer lösbar, nämlich mit optimiertem Verhalten auf Märkten. Doch das ist falsch: Verschiedene Probleme verlangen unterschiedliche Herangehensweisen. So ist es auch beim Klimaschutz.

Klima Politik Umwelt
In der Klimapolitik rinnt längst die Zeit davon.

Dieser Weg wurde von den 80 Forscherinnen und Forschern aus verschiedenen Disziplinen gewählt, die im Auftrag des Austrian Panel on Climate Change (APCC) den Stand der wissenschaftlichen Forschung zu Strukturen für ein klimafreundliches Leben in Österreich bewertet haben. Eine zentrale Erkenntnis dieser Zusammenarbeit ist, dass sich der Handlungsspielraum für Klimapolitik erweitert, wenn unterschiedliche Perspektiven berücksichtigt werden.

Faktor Zeit

Die Auswertung des Forschungsstands zeigt, dass Markt- und Innovationslösungen, wie sie auch Klimaökonom Gernot Wagner im Gastkommentar ("Die grüne Wachstumsmentalität") vertritt, in der Klimaforschung und -politik weit verbreitet sind. Einen steigenden CO2-Preis zu nutzen, um klimaschädliches Ein- und Verkaufen unattraktiv zu machen, ist ebenso notwendig wie Effizienzmaßnahmen und der Ausbau sauberer Energie durch eine grüne Industrie- und Innovationspolitik.

Aber selbst das dynamische Wachstum erneuerbarer Energien der letzten Jahre hat zu keinem Rückgang an fossilen Energieträgern geführt. Effizienzgewinne wurden weitgehend durch zusätzliches Wachstum "aufgefressen" – auch in Österreich. So wurden Autos zwar effizienter, gleichzeitig wurden immer mehr und schwerere Autos verkauft. Selbst jene elf Länder, die wie Österreich Wirtschaftswachstum erfolgreich von der Zunahme der CO2-Emissionen entkoppelt haben, benötigen bei gleichbleibender Geschwindigkeit mehr als 220 Jahre, um die Pariser Klimaziele zu erreichen. Bis dahin ist die 27-fache Menge ihres vorhandenen Kohlenstoffbudgets aufgebraucht.

Vor diesem Hintergrund steht die Wissenschaft in der Pflicht, sich mit weiteren realistischen Optionen zu beschäftigen, um Klimaziele zu erreichen und Wohlbefinden für alle zu fördern. Daher betont der APCC-Spezialbericht auch die Bedeutung einer klimafreundlichen Bereitstellung von Gütern und Dienstleistungen. Geht es um Suffizienz, also darum, wie viel genug ist, braucht es eine qualitativ hochwertige öffentliche Daseinsvorsorge, um die Grundversorgung für alle zu gewährleisten. Geht die Einführung klimafreundlicher Maßnahmen mit materieller Absicherung einher, steigt die gesellschaftliche Unterstützung für Klimamaßnahmen. Mit öffentlich bereitgestellten sozial-ökologischen Infrastrukturen ist es leichter, Bedürfnisse mit weniger Konsum zu befriedigen. Konkret, indem erzwungene Mobilität durch bessere Nahversorgung ersetzt wird oder ärmeren Haushalten klimafreundliche Heizsysteme (fast) kostenlos zur Verfügung gestellt werden. Es sind ordnungspolitische Maßnahmen notwendig: Änderungen der Straßenverkehrsordnung ermöglichen lebendige Nachbarschaften; die Untersagung, Einfamilienhäuser auf der grünen Wiese zu errichten, erleichtert die Revitalisierung von Ortskernen.

Naive Annahmen

Einschränkung und Ermöglichung sind zwei Seiten derselben Medaille. Eine zeitgemäße Innovationsperspektive beschäftigt sich sowohl mit nachhaltigen Produktions- und Konsumsystemen als auch damit, womit wir aufhören müssen, um anderes zu ermöglichen. Das Einhalten ökologischer Belastungsgrenzen erfordert gut geplante Prozesse von Aus-, Um- und Rückbau. Neben dem Ausbau klimafreundlicher Produktionen ist auch der Rückbau klimaschädlicher Produktionsprozesse notwendig. Beispiele dafür sind die Auto-, Flug- und Bekleidungsindustrie und die industrielle Massentierhaltung. In der Wissenschaft werden solche Maßnahmen als Exnovation, Phase-out oder Sunset bezeichnet.

Und schließlich ist das vorherrschende gesellschaftliche Naturverhältnis, das Natur "beherrschen" will, ein Treiber der Klimakrise. Beispielsweise die naiv-unrealistischen Annahmen bezüglich des zukünftigen Potenzials technischer "Lösungen", um Kohlenstoff der Atmosphäre zu entziehen und zu speichern. Nur unter solch unrealistischen Annahmen lassen sich Klimaziele in aktuellen Modellen mit weiterem Wirtschaftswachstum vereinbaren. Daher verwundert es nicht, dass das Überdenken eines naiven Wachstumsglaubens zu einem wichtigen Feld der Klimaforschung geworden ist.

Nur Multiperspektivität, das heißt ein interessierter und wissenschaftlich fundierter Pluralismus, ermöglicht es, Strukturen für ein klimafreundliches Leben durch gemeinsames Handeln zielgerichtet und demokratisch zu gestalten. Multiperspektivität ist die Voraussetzung für die klimapolitische Wende. (Richard Bärnthaler, Ernest Aigner, Melanie Pichler, Andreas Novy et al., 7.11.2023)