Ein Zug der Westbahn neben welchen der ÖBB am Westbahnhof in Wien.
Geht es nach der EU-Kommission, soll künftig die wettbewerbliche Ausschreibung verstärkt zum Zug kommen. In Österreich kommt Kritik auf, schließlich werden derzeit rund 80 Prozent der öffentlichen Verkehrsleistungen direkt von Bund und Ländern bestellt.
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Es ist ein 27-seitiges Papier, das durch die EU geistert und Gewerkschaften wie Juristen gleichermaßen beschäftigt. Im Juni dieses Jahres hat die Europäische Kommission ihre Auslegungsleitlinien für die sogenannte PSO-Verordnung (Public Service Obligation) erneuert. Diese regelt die Organisation der öffentlichen Personenbeförderung auf Schiene und Straße und wägt zudem ab, wie die öffentlichen Verkehrsmittel finanziert werden. In den Leitlinien der Kommission, die die Interpretation der Verordnung für Mitgliedsstaaten erleichtern soll, sollen die Direktvergaben aus öffentlicher Hand aber nun stark zurückgedrängt werden. Rechtlich haltlos, sagen Juristen. Eine Gefahr für leistbare Öffis, warnen Interessenvertreter und Gewerkschaften.

"Die Auslegungsleitlinien stehen im Widerspruch zu den europäischen Gesetzen", sagt Konrad Lachmayer, Rechtswissenschafter der Sigmund-Freud-Privatuniversität. Sie seien damit rechtlich unzulässig, besitzen keinerlei Bindung, so die Schlussfolgerung seines Gutachtens. Zu einem ähnlichen Schluss kommt die Gemeinschaft der Europäischen Bahnen (GEB), der Vertretung der Eisenbahnverkehrs- und Infrastrukturunternehmen.

Kommission will Märkte öffnen 

Die Pläne der EU-Kommission kommen nicht von ungefähr. Bereits beim vierten EU-Eisenbahnpaket 2016 forcierte sie eine strengere Handhabe der Direktvergabe. Auch in den Leitlinien lässt sie dies durchklingen. Die Befürchtung der GEB: Rechtsunsicherheit und eine unverhältnismäßige Einschränkung der Ermessensspielräume der Mitgliedsstaaten.

Bislang läuft es nämlich so: Neue Verträge dürfen ohne Ausschreibung vergeben werden. Bund und Ländern wird in der Verordnung das Recht eingeräumt, Verkehrsleistungen – nach Ankündigung im EU-Amtsblatt – direkt bei Anbietern zu bestellen. Die Laufzeit dafür beträgt im Regelfall maximal zehn Jahre, bei erheblichen Investitionen allerdings 15 Jahre. In der aktuellen Fassung des EU-Rechtsaktes können ab Ende des Jahres die Aufträge wettbewerblich ausgeschrieben werden, oder aber sie werden direkt vergeben, allerdings unter gewissen Auflagen.

Direktvergabe soll zur Ausnahme werden

In den Leitlinien der Kommission ist das jedoch weitaus strenger formuliert, wie die beiden Rechtsgutachten attestieren. "Die Kommission schafft hiermit Leitlinien, die eine wettbewerbliche Vergabe bevorzugen", erklärt Lachmayer. Ein Beispiel: In der gültigen Verordnung ist festgelegt, dass das gewählte Verfahren entweder kosteneffizienter sein oder aber die Qualität der Dienste erhöhen muss. In den Leitlinien hingegen wird das "oder" de facto durch ein "und" ersetzt. Letztlich läuft es darauf hinaus, zu erklären, warum die wettbewerbliche Ausschreibung nicht besser ist.

"Damit ist die Direktvergabe als Ausnahme definiert und soll laut Leitlinie restriktiv angewandt werden", sagt der Rechtswissenschafter. Bedeutet konkret: Die direkte Bestellung der Verkehrsleistung durch den Staat soll möglichst nicht zur Anwendung kommen.

Paradox ist dabei, dass die Leitlinien der Kommission rechtlich gar nicht bindend sind. Der Aufschrei der Arbeitnehmervertreter ist aber dennoch nicht gänzlich unbegründet. Denn die gesetzliche Auslegung befindet sich im EU-rechtlichen Graubereich. Zwar ist sie nicht verbindlich, allerdings sehr wohl zu berücksichtigen. Weicht man von ihr ab, muss man sich rechtfertigen. Soll heißen: Bestellt der Bund ab kommendem Jahr direkt bei einem Anbieter, könnte er sich ein Vertragsverletzungsverfahren der Kommission oder eine Klage der privaten Bahnbetreiber einhandeln. Letztlich läuft es damit auf einen Entscheid des Europäischen Gerichtshofs hinaus, sagt Lachmayer. Das könne aber zwei bis drei Jahre dauern – bis dahin drohe Rechtsunsicherheit, ob nun die Verordnung oder die Leitlinien anzuwenden sind.

Buchung über Bund und Länder als "Rückgrat"

In Österreich gibt es bislang praktisch nur eine im Wettbewerb befahrene Strecke: jene zwischen Wien und Salzburg, Stichwort Westbahn. Der große Rest wird vom Verkehrsministerium bei der Österreichischen Bundesbahn (ÖBB) bestellt, etwa der Schnellzugsverkehr zwischen Wien und Graz oder von Salzburg nach Innsbruck und Bregenz.

Zwar wurde die ÖBB 2005 in eine Konzernstruktur überführt, um die Infrastruktur (Schienen) vom Betrieb (Bahnen) zu trennen und damit auch privaten Wettbewerbern die Nutzung des Schienennetzes zu ermöglichen. Die Republik ist aber weiterhin Eigentümerin der obersten Konzernholding, lässt ihr über Zuschüsse, Kostenbeiträge und weitere Hilfen Milliardensummen zukommen. Laut einer Berechnung der wirtschaftsliberalen Agenda Austria beliefen sich diese in den vergangenen Jahren auf 3,5 bis vier Milliarden Euro jährlich.

Generell sind es die staatlichen Direktvergaben, die das finanzielle Rückgrat des Schienenpersonenverkehrs bilden, sagt Olivia Janisch, stellvertretende Vorsitzende der Eisenbahnergewerkschaft Vida. Denn: Oft gehe es um Strecken, die für private Bahnbetreiber nicht rentabel seien. Wie die ÖBB selbst vorrechnet, decken Ticketverkäufe nur ein Viertel der Kosten im Nah- und Regionalverkehr ab; die Buchung der Leistungen und damit Finanzierung durch Bund und Länder sei damit unumgänglich. In Zahlen: Direktvergaben machen derzeit rund 80 Prozent der Aufträge aus. Hinzu kommen steigende Fahrgastzahlen und das Ziel der Verkehrswende – und damit weiterer Investitionsbedarf in Infrastruktur und Personal.

AK und Gewerkschaft befürchten Lohn- und Sozialdumping

Letzteres sei es auch, was unter einer möglichen Liberalisierung am meisten leiden würde, so Janisch. Nicht nur sei sie wirkungslos in Bezug auf bessere Verkehrsverbindungen und günstigere Ticketpreise; auch mit unlauterem Wettbewerb sei zu rechnen, so die düstere Prognose der Gewerkschaftsvorsitzenden. Die hohen Fixkosten, die in der Branche üblich sind, könnten nur über Auslagerungen und Einsparungen des Personals gegenfinanziert werden. Dies gehe wiederum mit Lohn- und Sozialdumping einher, eine Verschlechterung der Arbeitsbedingungen drohe.

Allerdings deckt die Bestellung von Verkehrsdiensten laut Public Service Obligation bei weitem nicht nur die unmittelbar anfallenden Kosten ab. Denn die Verkehrsdienste erbringenden Bahnbetreiber haben sogar Anspruch auf eine jährliche Valorisierung und einen angemessenen Gewinn. (Nicolas Dworak, 6.11.2023)