Der Vogelzug der Kraniche
Im Flug sind Kraniche gut an ihren langgestreckten Hälsen zu erkennen. (Belichtungszeit 1/1000 Sek., Blende f10, Lichtempfindlichkeit ISO 250, Brennweite 500 mm am APS-Sensor entspricht Bildwirkung v. 750 mm umgerechnet aufs Kleinbildformat)
Michael Simoner

Wurden Sie in der Schule mit Balladen gequält? Unser Deutschlehrer war glücklicherweise gnädig (Danke, Herr Fessor!) – aber auch gewitzt. Goethes "Zauberlehrling" hat er so schwärmerisch angepriesen, dass wir die ausufernde Pritschelei im Spa des Hexenmeisters schon fast freiwillig auswendig gelernt haben. Schillers "Kraniche des Ibykus" hingegen mussten wir nur lesen. Die Story, dass Mörder sich selbst verraten, weil nur sie ein bestimmtes Detail des Verbrechens kennen können, ist eigentlich ziemlich spannend. Jedenfalls kommt mir immer "Sieh da! Sieh da, Timotheus!" in den Sinn, wenn ich Kraniche sehe. Und das war erst kürzlich der Fall.

Ab in den Süden

Tausende Kraniche aus dem hohen Norden sind gerade unterwegs in ihre südlichen Winterquartiere in Frankreich, Spanien und Nordafrika. Der Seewinkel im Burgenland ist eine beliebte Raststation. Der Zug der Vögel war in den vergangenen Tagen auch im Raum Wien zu beobachten, ich habe sie am Himmel über dem Bezirk Melk gesichtet. Und schon davor gehört. Kraniche können beim Fliegen nicht ihren Schnabel halten, sie verursachen eine weithin hörbare Klangwolke. Im Gegensatz zu Wildgänsen schnattern sie nicht, ihre Rufe klingen trompetenartig, was die althochdeutsche Bezeichnung "cranuh" lautmalerisch festhalten sollte. Daraus wurde Kranich, der wissenschaftliche Name lautet Grus grus.

Energiesparende V-Formation

Es war wirklich beeindruckend, als die Gruppe Kraniche (geschätzt waren es 300) über unsere Köpfe hinwegzog. Die Staffel flog in der legendären V-Formation. Das spart Energie, weil hinter jedem Vogel ein Sog entsteht, von dem der Nachkommende vor allem in der Segelflugphase profitiert. An der Spitze ist es naturgemäß mühsamer, deshalb wechseln sich die Leitvögel ab. Das V war nicht immer perfekt, manchmal entstanden Lücken, und das Gebilde glich eher einem Y. Es gab auch einige Nachzügler. Nach zwei Minuten waren die großen Vögel mit einer Flügelspannweite von bis zu 2,2 Metern schon wieder außer Sicht- und Hörweite.

Auch andere Zugvögel wie Wildenten, Kormorane und Reiher reisen in der V-Klasse. Mit Letzteren werden Kraniche manchmal verwechselt. Doch selbst auf weite Entfernung ist der langgestreckte Hals des Kranichs immer noch zu erkennen. Reiher hingegen ziehen im Flug den Kopf möglichst weit zurück.

Flugrouten geändert

Den Kranichzug kann man in Österreich erst seit rund zehn Jahren so gut beobachten, weil die Vögel ihre Flugrouten geändert haben. Warum, weiß niemand so genau, nicht einmal der WWF. 2018 hatte sogar ein Kranichpaar erstmals seit 1885 wieder nachweislich in Österreich gebrütet, wie die Wissenschaftsredaktion des STANDARD berichtete. Aber das dürfte eher eine Ausnahmeerscheinung gewesen sein. Was Kraniche brauchen, sind flache Seen oder Teiche und größere Sumpfgebiete. Die trocknen aber im Sommer immer öfter aus. Der Zauberlehrling wüsste zwar, wie man Wasser beschafft. Aber die Geister, die man ruft, wird man bekanntlich schwer wieder los. (Michael Simoner, 8.11.2023)

Der Vogelzug der Kraniche
Segeln in der Gruppe, ein Kranich kommt selten allein. (1/1000 Sek., f10, ISO 450, 500 mm, APS-C)
Michael Simoner
Der Vogelzug der Kraniche
Manchmal wird aus der V-Formation ein Y. (1/1000 Sek., f10, ISO 320, 260 mm, APS-C)
Michael Simoner
Der Vogelzug der Kraniche
Die Leitvögel an der Spitze wechseln sich ständig ab. (1/1000 Sek., f10, ISO 400, 420 mm, APS-C)
Michael Simoner
Der Vogelzug der Kraniche
Kraniche fliegen in einer selbsterzeugten Klangwolke. (1/1000 Sek., f10, ISO 200, 500 mm, APS-C)
Michael Simoner