"Der Krieg ist eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln": Der berühmte Satz des preußischen Militärstrategen Carl von Clausewitz hat bis heute Gültigkeit. Er bedeutet auch, dass eine Militäraktion nur Erfolg haben kann, wenn sie in eine sinnvolle politische Strategie eingebettet ist.

Indem die Regierung von Premier Netanjahu eine Waffenruhe, um Verhandlungen eine Chance zu geben, ablehnt, dürfte sie die Rettung der meisten Geiseln zugunsten ihres anderen Ziels, der Vernichtung der Hamas, stillschweigend aufgegeben haben.
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Im blutigen Konflikt zwischen Israel und der Hamas kann man das auf beiden Seiten infrage stellen. Wenn die Hamas mit ihrem Massaker vom 7. Oktober ein Ziel hatte, das über das Abschlachten möglichst vieler Israelis hinausging, dann jenes, das auch andere Terrorgruppen verfolgen: durch Blutvergießen den übermächtigen Gegner zu einer überschießenden Reaktion zu provozieren, die dann breite Unterstützung für die eigene Sache bringt – bei der Hamas die Vernichtung Israels. Aber wie die Rede von Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah am Freitag gezeigt hat, in der er keinen vollen Kriegseintritt der mächtigen schiitischen Miliz in Aussicht gestellt hat, erfüllt sich diese Erwartung bisher nicht. Die Hamas bleibt auf sich allein gestellt – ihre eigene Vernichtung der wahrscheinlichere Kriegsausgang.

Differenziertes Vorgehen

Aber auch auf israelischer Seite passen die politischen und die militärischen Strategien nicht zusammen. Israel will die 240 Geiseln befreien und gleichzeitig die Infrastruktur der Hamas zerstören. Beides wird nicht möglich sein. Geiseln lassen sich militärisch nur durch Überraschungsaktionen befreien, wie es Israel etwa 1976 auf dem Flughafen Entebbe in Uganda gelang. Bei ausgedehnten Kampfhandlungen haben sie kaum eine Überlebenschance.

Indem die Regierung von Premier Netanjahu eine Waffenruhe, um Verhandlungen eine Chance zu geben, ablehnt, dürfte sie die Rettung der meisten Geiseln zugunsten ihres anderen Zieles, der Vernichtung der Hamas, stillschweigend aufgegeben haben. Daher ist auch Netanjahus Antwort auf die entsprechende Forderung von US-Außenminister Antony Blinken, eine Waffenruhe könne es erst nach der Freilassung der Geiseln geben, nicht ernst gemeint.

Ebenso muss man sich fragen, warum Israel nicht mehr tut, dass die Bevölkerung im südlichen Gazastreifen versorgt und von Bomben verschont wird, wenn es doch zur Vermeidung ziviler Opfer die Menschen im Norden zur Flucht drängen will. Ein solch differenziertes Vorgehen wird offenbar von den rechtsextremen Kräften in der Regierung verhindert.

Dysfunktionale Politik

Die größte Lücke im israelischen Masterplan tut sich bei der Frage auf, was nach einem Sieg über die Hamas im Gazastreifen geschehen soll. Im Idealfall würde die Fatah, die Israels Existenzrecht anerkennt, so wie in Teilen des Westjordanlands die dortige Verwaltung übernehmen. Aber das wäre nur im Rahmen eines Friedensprozesses vorstellbar, der die Schaffung eines unabhängigen Palästinas als Ziel verfolgt. Dafür müsste im Westjordanland der jüdische Siedlungsbau gestoppt und die Autonomiebehörde gestärkt werden. Stattdessen geschieht das Gegenteil: Seit dem Hamas-Massaker haben radikale Siedler ihre Gewalttaten gegen palästinensische Dörfer deutlich verstärkt.

Ohne eine glaubwürdige politische Strategie wäre selbst eine vollständige Niederlage der Hamas für Israel ein Pyrrhussieg, nach dem sich die Gewaltspirale weiterdrehen würde. Israels Armee kann noch so mächtig sein – seine dysfunktionale Politik bleibt für den jüdischen Staat das größte Sicherheitsrisiko. (Eric Frey, 5.11.2023)