Burgschauspieler Michael Maertens gab einen formidablen Jedermann. Dennoch muss er im kommenden Jahr den Platz vor dem Dom für Publikumsliebling Philipp Hochmair freimachen.
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Es war Samstag, der 9. September dieses Jahres, als im Schloss Leopoldskron in Salzburg ein großes Fest gefeiert wurde. 150 Jahre alt wäre Max Reinhardt an diesem Tag geworden. Schon das ganze Jahr über gingen im Schloss, das der Salzburger Theatermacher 1918 erworben hatte, hochkarätig besetzte Symposien und Veranstaltungen über die Bühne.

Das Fest zum Geburtstag stellte den Höhepunkt der Feierlichkeiten dar, und wer immer in Salzburgs Kulturwelt Rang und Namen hat, pilgerte nach Leopoldskron. Darunter auch die Jedermänner, die Reinhardts berühmtestes Theaterstück in den vergangenen Jahren auf dem Salzburger Domplatz zum Besten gaben. Der aktuelle Jedermann-Regisseur Michael Sturminger inszenierte im Garten, auf der Terrasse, in der Halle und im Stiegenhaus ein Stationentheater mit Tanz, Musik und Schauspiel.

Mit dabei auch Burgtheaterschauspieler Michael Maertens, der im Sommer das erste Mal den Jedermann gegeben hatte – und Philipp Hochmair. Seit vielen Jahren tingelt der Publikumsliebling mit seinem Ein-Mann-Kraftakt Jedermann (Reloaded) durch die Lande – er trat damit sogar im Stephansdom auf. Als Tobias Moretti vor fünf Jahren an einer Lungenentzündung erkrankte, sprang Hochmair ein – und wurde dafür mit Lob überhäuft.

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Das "Spiel vom Sterben des reichen Mannes", so der Untertitel des Jedermann, regulär auf der Bretterbühne vor dem Salzburger Dom zu geben ist seitdem Hochmairs Traum, doch so wirklich erhören wollte ihn in der Festspielstadt bisher niemand. Hochmair war "der beste Einspringer der Welt", sagt Sturminger, "wir waren ihm wirklich dankbar". Weitere Pläne gab es für den medienwirksamen Schauspieler in Salzburg nach 2018 aber nicht.

Bei den Feierlichkeiten zu Reinhardts Geburtstag auf Schloss Leopoldskron nutzte Hochmair nun endlich die Gelegenheit und fragte Bettina Hering, Schauspieldirektorin der Festspiele, mit wem er sprechen müsse, um irgendwann als regulärer Jedermann auf dem Domplatz aufzutreten. Mit dem künstlerischen Intendanten Markus Hinterhäuser, antwortete ihm Hering, sie selbst verlasse Ende des Monats nach sieben Jahren Salzburg, die Entscheidung liege nicht mehr in ihren Händen.

Donnerschläge am Domplatz

Knappe zwei Monate und einige Donnerschläge später will Hering diese kolportierte Episode zwar nicht bestätigen, sie verneint sie aber auch nicht. Faktum ist: Am Mittwoch, den 18. Oktober erreichte Michael Maertens ein Telefonanruf der neuen Schauspielchefin, Marina Davydova, in dem ihm mitgeteilt wurde, dass er im kommenden Sommer nicht mehr gebraucht würde. Am frühen Abend des Nationalfeiertags sickerte dann durch, wer der neue Jedermann sein werde: Philipp Hochmair. Die Regie übernimmt der angesehene kanadische Regisseur Robert Carsen.

Was sich zwischen diesen zwei Zeitpunkten abspielte, offenbart wahrscheinlich mehr über die Verfasstheit Österreichs, als dem Land lieb sein kann: Ein mehr schlecht als recht zusammengezimmertes Knittelversdrama beherrschte tagelang die Schlagzeilen: Die Operettenrepublik schien wieder einmal ganz bei sich. Von einem Tag auf den anderen hatte sich das größte Kulturfestival des Landes in ein Kommunikationsdesaster manövriert – und findet bis heute nicht heraus.

Eine Bestätigung der Neubesetzung durch die Salzburger Festspiele steht bis zum jetzigen Zeitpunkt ebenso aus wie eine schlüssige Erklärung, wie und warum es um Himmels willen zur plötzlichen Absetzung der gerade einmal einen Sommer lang gespielten Inszenierung gekommen ist. Denn eine Neuinszenierung kostet viel Geld, das die Salzburger Festspiele derzeit dringend anderswo benötigen würden, und ist eine schallende Ohrfeige für all jene, denen man bereits eine Zusage für das kommende Jahr gemacht hat, also für die gesamte Besetzung und das Leitungsteam.

Kein Interesse an Schlammschlacht

Mit wem man auch spricht, die Verwunderung über die plötzliche Entscheidung ist groß. Am deutlichsten formuliert es Bettina Hering, also jene Frau, unter deren Ägide der Jedermann nach Jahren inszenatorischen Tiefschlafs endlich wieder sanft zum Leben erweckt wurde. "Ich bin schockiert über die Unprofessionalität, die hier an den Tag gelegt wurde", sagt sie. "Der Vorgang ist unerhört und in seiner Umsetzung respektlos."

Mit den Medien hat Hering bisher nicht gesprochen, und auch jetzt merkt man, wie sie um jedes Wort ringt. Dieser Jedermann sei "ganz ohne Not" abgesetzt worden, sagt sie, bis zu ihrem letzten Arbeitstag Ende September habe es "nicht den Hauch eines Anzeichens" dafür gegeben.

Was genau nach ihrem Abgang in den vergangenen Wochen in Salzburg passiert ist, darüber wolle sie nicht spekulieren: Sie habe kein Interesse an einer Schlammschlacht, so Hering. Die Spekulationen übernehmen derweil ohnehin andere, befeuert vom beredten Schweigen aus Salzburg, wo man wahlweise von finanziellen Gründen munkelt, dann wieder von inhaltlichen.

Die neue Schauspielchefin jedenfalls, die Russin Marina Davydova, die bei der Entscheidung den kleinsten Anteil gehabt haben dürfte, sprach in einem Gespräch mit dem STANDARD beides an.

Offiziell heißt es dagegen seit Beginn der Aufregung aus dem Pressebüro der Festspiele: kein Kommentar. Weder der Intendant noch die Präsidentin seien zu Interviews bereit. Nur eine knappe Pressemitteilung verschickte man, zwei Tage nachdem die Absetzung der Sturminger-Inszenierung und des gesamten bisherigen Jedermann-Teams in der Öffentlichkeit publik wurde: Dieser Schritt sei notwendig gewesen, "um einen künstlerischen Neustart zu ermöglichen", hieß es darin schwammig.

Zu diesem Zeitpunkt befand man sich allerdings schon mitten in einer Schockstarre, die auch weiterhin anhält: Die Präsidentin untergetaucht und der künstlerische Intendant im Abwehrmodus.

Immer offensichtlicher werden die Schwächen in der Führung eines Festivals, das bei passender Gelegenheit vollmundig Weltgeltung beansprucht. Spannendstes Detail dabei: Der Vertrag von Markus Hinterhäuser muss in den kommenden Monaten verlängert werden – oder eben nicht.

Abgesetzter Regisseur Michael Sturminger: "Dieser 'Jedermann' war konservativen Kräften ein Dorn im Auge."
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Seit 2016 programmiert Hinterhäuser die Festspiele künstlerisch auf hohem Niveau, seit dem Abgang von Langzeitpräsidentin Helga Rabl-Stadler vor zwei Jahren wurden die künstlerischen Erfolge des ausgebildeten Pianisten aber immer wieder durch schwer nachvollziehbare kulturpolitische Entscheidungen und mangelnde Professionalität in der Kommunikation konterkariert.

So machten die Festspiele weder gute Figur, was die Aufarbeitung russischer Geldflüsse, noch, was das Engagement des umstrittenen russisch-griechischen Dirigenten Teodor Currentzis anbelangt. Im Gegenteil: Statt für Aufklärung und Transparenz zu sorgen, ging Hinterhäuser in Deckung oder blockte ab.

Als der Schauspieler Cornelius Obonya diesen Sommer eine eindeutige Stellungnahme der Festspiele zu Schwarz/Blau auf Landesebene forderte, unterstellte ihm Hinterhäuser gar "gedankliche Schlichtheit". Mit der neuen Präsidentin der Festspiele, der Marketingfrau Christina Hammer, ist Hinterhäuser zerstritten, auch gegenüber Medien lässt er kein gutes Haar an ihr. Beobachter beschreiben den Intendanten schon länger als amtsmüde, seine Entscheidungen als erratisch.

Wie immer man zu Hinterhäusers Positionierungen stehen mag: Dass die Art, wie er Themen kommuniziert, sagen wir, suboptimal ist, darüber sind sich selbst die meisten seiner Unterstützer einig. Oder wie es der abgesetzte Jedermann-Regisseur Michael Sturminger formuliert: "Ich habe mit Hinterhäuser nach der Entscheidung, den Jedermann auszutauschen, drei Mal telefoniert, und drei Mal hat er mir gesagt, dass er jetzt eigentlich nichts sagen kann."

Knappe zwei Wochen ist es her, dass Sturminger vor die Tür gesetzt wurde, und noch immer ist dem Regisseur die Fassungslosigkeit ins Gesicht geschrieben: "Der Jedermann war in den vergangenen sieben Jahren immer ausverkauft", sagt er tief über seine Schinkenfleckerln gebeugt. "Und jetzt macht man sich plötzlich Gedanken über mögliche finanzielle Einbußen?" Beim Treffen im Wiener Café Prückel wird er immer wieder etwas lauter, so sehr ärgert ihn die ganze Sache.

Auch für Sturminger kam die Entscheidung aus heiterem Himmel. Noch Anfang August hatte ihm Davydova nach einem Besuch des Jedermann zugesichert, wie sehr ihr die Inszenierung gefalle. Kurz danach habe sie Jedermann Michael Maertens offiziell angefragt, ob er bis 2026 für Sturmingers Inszenierung zur Verfügung stehe.

Finanzielle Sorgen rund um den Jedermann scheinen in der Tat kaum angebracht zu sein. Jedes Jahr reißen sich rund 33.000 Besucher um die Tickets am Domplatz bzw. im Großen Festspielhaus, wo der Jedermann bei Schlechtwetter gespielt wird.

Hofmannsthals 1920 erstmals am Domplatz gezeigtes Theaterstück ist schon lange ein Selbstläufer, das eine ganz andere Klientel als die übrigen Schauspielproduktionen anzieht. Viele Dirndln und Lederhosen sieht man im Publikum, allerorten blitzen die Handys für Selfies auf.

Nebelgranate Auslastung

Dass Sturmingers Jedermann zu weniger Absatz an der Theaterkasse führen könnte, dieses Argument hält auch Schauspielchefin Bettina Hering für eine Nebelgranate: "Dafür gab es bis Ende September überhaupt keine Anzeichen", so Hering. "Der Vorverkauf beginnt erst im Dezember nach der Pressekonferenz." Also haben doch künstlerische Gründe zur Absage geführt?

Wer das nachvollziehen will, muss einige Salzburger Spezifika verstehen.

Faktum ist, dass Michael Sturmingers Neuinszenierung auf wenig Gegenliebe beim Salzburger Establishment stieß. Schon zum dritten Mal versuchte sich der Wiener Regisseur in diesem Sommer an Hofmannsthals Klassiker. Sprang er vor sieben Jahren noch kurzfristig ein, weil Jedermann Tobias Moretti mit der damaligen Inszenierung wenig anzufangen wusste, entwickelte Sturminger drei Jahre später gemeinsam mit Lars Eidinger und Buhlschaft Verena Altenberger eine auf Geschlechterfragen zugeschnittene Fassung, die zwar von der Kritik gelobt, aber vom Publikum kontroversiell aufgenommen wurde. Stichwort: eine Buhlschaft mit Kurzhaarfrisur und ein Jedermann im Wickelrock.

Beim dritten Inszenierungsanlauf ging Sturminger diesen Sommer dann noch einen Schritt weiter: Er siedelte den Jedermann in einer Endzeit an, Menschen in Plastiklumpen rotten sich vor Jedermanns Palladio-Villa zusammen, während Klimakleber deren Außenwand besprühen. Dass Klimaaktionisten justament die Premiere störten, interpretierten die einen als inszenatorische Vorsehung, andere sahen sich in ihrem Kunstgenuss gestört. Keine Frage: Das war kein kulinarischer Jedermann mehr, sondern einer, der die Gegenwart auf den Domplatz holte. Auch den lokal einflussreichen Salzburger Nachrichten war die harmlose, aber für den Jedermann ungewöhnliche Inszenierung ein Dorn im Auge.

Im Direktionsbüro der Festspiele blieb es unterdessen ruhig: "Tatsache ist, dass uns keine einzige negative Mail mehr als üblich erreicht hat", sagt die mittlerweile verabschiedete Schauspieldirektorin Bettina Hering. "Und Tatsache ist auch, dass es keine wie auch immer geartete negative Reaktion der beiden nun künstlerisch Verantwortlichen auf den Verlauf des ganzen Sommers bis zu meiner Verabschiedung Ende September gab."

Mit Letzteren meint Hering Marina Davydova und Markus Hinterhäuser, der anders als sie selbst (und Davydova) gemeinsam mit Präsidentin Hammer und dem kaufmännischen Direktor Lukas Crepaz im Direktorium der Festspiele sitzt.

Die ehemalige Schauspielchefin Bettina Hering: "Der Vorgang ist unerhört und in seiner Umsetzung respektlos."
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Für das Schauspiel bringt Hinterhäuser wenig Interesse auf, anders als unter manchem seiner Vorgänger fristet es an Spielstätten wie dem Landestheater oder der Perner-Insel ein eher randständiges Dasein. Eine Shakespeare-Inszenierung von Peter Stein in der Felsenreitschule scheint unter Hinterhäuser undenkbar. Auch Hering wurde übrigens bis heute nicht vom Intendanten über die Entwicklungen beim Jedermann informiert. Doch zurück ins Café Prückel, wo Michael Sturminger davon überzeugt ist, dass die Absetzung seiner Jedermann-Inszenierung mit der Tatsache zu tun haben muss, dass darin die Klimakrise verhandelt werde: "Das war offenbar in Salzburg und auch konservativen Kräften anderswo ein Dorn im Auge, vielleicht auch dem einen oder anderen einflussreichen Einflüsterer." Das von der ÖVP dominierte Kuratorium entscheidet in den kommenden Monaten über die potenzielle Verlängerung von Hinterhäusers Vertrag: "Da könnte die Absetzung des Jedermann durchaus als positives Zeichen gewertet werden", so Sturminger.

Kollateralschäden ohne Ende

Die Absetzung des Jedermann also eine Art vorauseilender Gehorsam gegenüber dem Kuratorium? Selbst wenn das Hinterhäusers Kalkül gewesen sein sollte, ist es gehörig nach hinten losgegangen.

So viele Kollateralschäden wie die Jedermann-Absage hat wohl selten die Entscheidung eines Salzburger Festspielintendanten verursacht: Die Vertrauensbasis mit einer ganzen Reihe an Künstlern ist zerstört, das Vertrauen in die Handschlagqualität des Intendanten erschüttert. Und als sei das nicht genug, beschädigte man auch noch den Ruf der sich gerade einmal ein paar Wochen im Amt befindlichen und mit Salzburger Sitten nicht vertrauten neuen Schauspieldirektorin Marina Davydova.

Festspiel-Intendant Markus Hinterhäuser: Schritt sei notwendig, um "künstlerischen Neustart zu ermöglichen".
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Statt Geld zu sparen, wie es angesichts von Teuerung und explodierender Personalkosten auch bei den Festspielen nötig ist, wird die Absage die Festspiele noch teuer zu stehen kommen: Den bereits für das kommende Jahr fixierten Vertrag mit Michael Maertens wird man ausbezahlen, wahrscheinlich auch zu einem gewissen Teil die mündlichen Vereinbarungen mit dem Rest der Crew kompensieren müssen. Und dann muss ja noch ein neuer, sicher auch nicht gerade billiger Jedermann erarbeitet werden.

Derzeit haben die Festspiele nämlich keinen. (Stephan Hilpold, 5.11.2023)