Die Aufforderung der Hamas wurde gehört: Nachdem die palästinensische Terrororganisation erneut zu Protesten von Palästinensern, Arabern und Muslimen allgemein aufgerufen hatte, kam es am Wochenende weltweit zu propalästinensischen Demonstrationen. In Dagestan stürmte eine Menschenmenge nach der Landung einer Maschine aus Israel am Sonntagabend gar den Flughafen der Hauptstadt der russischen Republik. Angreifer rannten laut Medienberichten auf das Rollfeld und erklommen das Dach des Flughafens von Machatschkala. Im Onlinenetzwerk Telegram veröffentlichte Videos zeigen, wie Männer Zäune durchbrechen, Türen im Terminal eintreten und versuchen, Autos beim Verlassen des Flughafens auf israelische Staatsbürgerinnen und -bürgern zu kontrollieren. 20 Menschen wurden dabei laut Angaben der dortigen Behörde verletzt. Dagestan ist eine vorwiegend muslimische Region im Nordkaukasus im südlichen Teil Russlands.

Video: Mob in Dagestan stürmt Flughafen.
AFP

In zahlreichen arabischen Ländern gab es Solidaritätsbekundungen für die Palästinenser, darunter im Irak, in Jordanien, in Tunesien und in Malaysia. In der Türkei fand ebenso eine Demonstration statt, mehrere Hunderttausend Menschen kamen türkischen Medienangaben zufolge zu der Kundgebung in Istanbul. Geladen hatte der Staatspräsident persönlich. Recep Tayyip Erdoğan stellte sich dabei nicht nur klar auf die Seite der Bevölkerung im Gazastreifen, sondern auch auf die der dort herrschenden radikalislamischen Hamas. Schon zuvor hatte Erdoğan gesagt, die ursprünglich aus der aus Ägypten stammenden Bewegung der Muslimbruderschaft hervorgegangene Hamas sei keine Terrororganisation – als solche wird sie vorwiegend im Westen, darunter in der EU und in den USA bezeichnet –, sondern eine Gruppe von "Befreiern", die für ihr Land kämpfe.

Demos auch in Europa, umstrittene Sprüche

Aber auch in vielen Teilen Europas gingen Menschen und dabei auch zahlreiche Nichtmuslime auf die Straße. In London forderten die Menschen den britischen Premierminister Rishi Sunak auf, sich für eine Waffenruhe starkzumachen. Die Demonstration war eine der größten in Europa, sie verlief weitgehend friedlich. Im Londoner Stadtzentrum riefen allerdings einige Teilnehmerinnen und Teilnehmer erneut die umstrittene Parole "From the river to the sea, Palestine will be free". Der Slogan meint das Gebiet vom Fluss Jordan bis zum Mittelmeer und bekräftigt den Anspruch auf jenes Territorium, auf dem sich der Staat Israel befindet. Die britische Innenministerin Suella Braverman hatte den Slogan bereits zuvor als antisemitisch kritisiert und erklärt, er werde von vielen als Aufruf zur Zerstörung Israels verstanden. Österreichs Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) hatte zuletzt in den Raum gestellt, dass das Skandieren des Slogans "Vom Fluss bis zum Meer wird Palästina frei sein" strafrechtlich verboten werden könnte.

Palästina Israel Nahost Wien
Solidaritätskundgebung für die palästinensische Bevölkerung auf dem Wiener Ballhausplatz am 16. Oktober
Tabea Kerschbaumer

Kundgebungen wurden unter anderem auch aus Kopenhagen, Rom und Stockholm gemeldet. In Frankreich verboten einige Städte Demonstrationen aus Furcht vor Eskalationen, in Paris und Marseille fanden Kundgebungen statt. Tausende Menschen protestierten unter anderem auch in Berlin und München, wo Israel auf hochgehaltenen Plakaten und skandierten Sprüchen Völkermord vorgeworfen wurde. Auch in der US-Staat New York und in der neuseeländischen Hauptstadt Wellington marschierten Menschen mit palästinensischen Flaggen und Plakaten mit der Aufschrift "Free Palestine".

Vorfälle in Österreich

In Österreich demonstrierten am Samstag 700 Menschen in Bregenz: Die Aktion unter dem Motto "Freiheit für Palästina" verlief der Polizei zufolge "laut, aber friedlich". Drei Anzeigen erfolgen demnach wegen des Vermummungsverbots, zwei wegen aggressiven Verhaltens. Eine Anzeige erging wegen des Verdachts auf Verhetzung nach einer entsprechenden Parole. Die Kundgebung war von der Sozialistischen Jugend Vorarlberg (SJV) veranstaltet worden, sie wurde am frühen Nachmittag vorzeitig beendet. Von der SJV selbst nahm schlussendlich nur eine Handvoll Personen teil, hieß es seitens der Polizei.

Palästina Israel Nahost Innsbruck
Propalästinensische Kundgebung am Dienstag, 17. Oktober, in Innsbruck.
APA/EXPA/ERICH SPIESS

Zuletzt hatte die SJV mit einem Posting auf Social Media für Aufregung gesorgt. In dem auch von der eigenen Partei scharf kritisierten Posting hatte die SJV einen "erbarmungslosen Krieg gegen die gesamte palästinensische Bevölkerung im Gazastreifen beklagt", ihre Solidarität mit der palästinensischen Bevölkerung bekundet, ohne das Massaker der Hamas, das dem jetzigen Krieg voranging, zu verurteilen oder überhaupt zu erwähnen.

Auch in Salzburg kamen – zum ersten Mal in dem Bundesland – am Samstag 200 Personen in der Altstadt zusammen, um ihre Solidarität mit den Bewohnerinnen und Bewohnern des Gazastreifens zum Ausdruck zu bringen. Polizeiangaben zufolge blieb der Protest ruhig. In anderen Bundesländern hat es bereits eine Reihe von propalästinensischen Veranstaltungen gegeben, einige waren vorab nach behördlicher Überprüfung verboten worden – unter anderem aufgrund der besagten "Free, free Palestine, from the river to the sea"-Parole.

Beschmierungen an der Universität Wien

Am Sonntag stellte die Vertretung der jüdischen Studierenden in Österreich, die Jüdischen österreichischen Hochschüler:innen (JÖH), Bilder von antijüdischen Beschmierungen auf dem Campus der Universität Wien auf den Social-Media-Kanal X, vormals Twitter: Auf den Fotos sind Sprüche an einigen Wänden des Universitätsgeländes zu sehen, bei denen Israel auf Deutsch und Englisch "Apartheid" sowie "Genozid" vorgeworfen wird. Auch die in Deutschland ebenfalls zuletzt öfter skandierte Losung "Free Palestine from German guilt", übersetzt: „Befreit Palästina von deutscher Schuld“, wurde an mehrere Stellen gemalt und dabei um "österreichische Schuld" erweitert. Mit diesem bereits seit 1946 bekannten Propagandabegriff wurde in der Vergangenheit gefordert, einen "Schlussstrich" unter die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit und die deutsche respektive österreichische Verantwortung für ihre Verbrechen zu ziehen. Nun wird gefordert, den Nahostkonflikt losgelöst von der historischen Verantwortung Deutschlands und Österreichs zu bewerten.

Die JÖH kritisierten "die antisemitischen Diffamierungen" sowie "Schuldkult und Entlastung, wie man ihn sonst nur von Neonazis kennt". "Jüdische Studierende fühlen sich an Universitäten zurzeit nicht sicher", heißt es zudem vonseiten der Studierendenvertretung. Das 96.000 Quadratmeter große Campusgelände des ehemaligen Allgemeinen Krankenhauses in der Nähe des Zentrums beherbergt 16 Institute, das Hörsaalzentrum mit zwei Hörsälen, zahlreiche Serviceeinrichtungen für Studierende sowie Geschäfte, Büros und Gastronomiebetriebe. Aus dem Pressebüro der Universität Wien heißt es, die Beschmierungen seien "unmittelbar entfernt" worden, zudem habe man Anzeige erstattet. Pressesprecherin Cornelia Blum sagte am Montag im Gespräch mit dem STANDARD, dass die Universität dazu aufrufe, derartige Vorfälle zu melden, denn: "Antisemitismus hat keinen Platz an der Universität Wien."

Sorgen jüdischer Studierender

Es handle sich um den zweiten diesbezüglichen Vorfall seit dem Terrorangriff der Hamas in Israel am 7. Oktober: Beim ersten wurden beim Institut für Judaistik, das ebenfalls auf dem Campus beheimatet ist, laut Blum bereits antisemitischen Sprüche aufgemalt. Aufgrund von Sicherheitsbedenken von Studierenden sowie Mitarbeiterinnen des Instituts habe die Universität schon infolge der Gewalt am 7. Oktober – zusätzlich zum ohnehin immer vorhandenen Sicherheitspersonal auf dem Campus – weitere Security zur Verfügung gestellt: Die eine Person an der Judaistik sei jetzt um eine weitere aufgestockt worden.

Alon Ishay, Präsident der Jüdischen österreichischen Hochschüler:innen, sagt im STANDARD-Gespräch, dass die Angst unter jüdischen Studierenden seit dem Hamas-Angriff in Israel auch in Österreich "stark gestiegen" sei. Antisemitische Vorfälle hätten generell zugenommen, Universitäten seien darüber hinaus ein Ort, an dem man sich besonders viel mit Politik auseinandersetze, da "kommt man um das Thema Nahost nicht herum". Und es sei schließlich davon auszugehen, dass jene Personen, die die antisemitischen Sprüche angebracht hätten, auf Israel nicht gut zu sprechen seien – und damit auch auf Jüdinnen und Juden, für die Israel auch als Schutzraum diene. "Wenn man sich die Vorfälle an Universitäten anschaut, dann sieht man, wohin das münden kann", sagt Ishay mit Blick auf propalästinensische Bekundungen an amerikanischen Hochschulen. An einigen US-Unis würden sich Jüdinnen und Juden nicht aus ihren Studentenwohnheimen trauen, da sie "Angst vor ihren Kommilitonen und Kommilitoninnen haben".

Ishay sagt, Jüdinnen und Juden hätten in Österreich zwar "das Privileg", dass sowohl die Österreichische Hochschülerinnen- und Hochschülerschaft (ÖH) als auch die hiesige Regierung klare Beschlüsse gefasst hätten in Hinblick auf Israel-bezogenen Antisemitismus. Er würde sich jedoch, sagt er, wünschen, dass Lehrende mehr in die Verantwortung gezogen werden, etwa wenn es darum geht, antisemitische Vorfälle in ihren Lehrveranstaltungen "klar zu benennen, zu beantworten und zurückzuweisen".

Zunahme antisemitischer Vorfälle

Die Israelitische Kultusgemeinde (IKG) hatte zuletzt aufgrund von einer Zunahme "antisemitischer und terrorverherrlichender Reaktionen" auf die Verbrechen der Hamas in Israel eine Sonderauswertung der gemeldeten Vorfälle für den Zeitraum zwischen 7. und 19. Oktober 2023 in Auftrag gegeben. Gezählt wurden dabei ausschließlich jene, die in dieser kurzen Zeit verifiziert werden konnten. Das Ergebnis: In diesen ersten 13 Tagen seit dem Hamas-Überfall wurden insgesamt 76 antisemitische Vorfälle gemeldet. "Im Vergleich zu den im gesamten Jahr 2022 gemeldeten Vorfällen entspricht dies einer Steigerung um 300 Prozent", hielt IKG-Generalsekretär und Leiter der Meldestelle, Benjamin Nägele, bei der Präsentation des Berichts fest. Als Beispiele führte er das Einschlagen einer Fensterscheibe eines koscheren Lebensmittelgeschäfts, Shoah-relativierende oder gar Shoah-glorifizierende Botschaften an Schulen sowie in sozialen Netzwerken an.

Juden und Jüdinnen in Österreich seien angesichts des wachsenden Antisemitismus sehr besorgt, manche hätten auch Angst, sagte IKG-Präsident Oskar Deutsch am Sonntag in der ORF-"Pressestunde": Weil "ein bisschen" versucht werde, "den Krieg nach Europa und in die ganze Welt zu bringen. Aber wir werden uns nicht einschüchtern lassen." Das jüdische Leben funktioniere mittlerweile auch dank der erhöhten Sicherheitsvorkehrungen wieder relativ normal. Jüngst wurde die Förderung für die Israelitische Kultusgemeinde auf sieben Millionen Euro erhöht. "Wenn es so weitergeht, werden wir 100 Prozent dieses Geldes in Sicherheit stecken müssen", so der IKG-Chef. Allein die jüdische Gemeinde in Wien gebe aktuell fünf Millionen Euro und damit 23 Prozent ihres Gesamtbudgets jährlich für Sicherheit aus.

Die Lage sei allerdings hierzulande "noch nicht so schlimm wie in anderen Ländern". Die meisten Muslime in Österreich würden sich in der derzeitigen Situation relativ besonnen benehmen, betonte Deutsch. Auch die Islamische Glaubensgemeinschaft in Österreich (IGGÖ) sei "beruhigend unterwegs". (Anna Giulia Fink, 30.10.2023)