Die antisemitischen Kundgebungen, das aggressiv zur Schau getragene Propalästinensertum samt Mangel an Empathie für die von Hamas-Terroristen abgeschlachteten jüdischen Menschen entsetzen viele. Jüdinnen und Juden in Europa haben Angst. Vorfälle wie das Herunterreißen der israelischen Fahne von der Fassade des Wiener Stadttempels scheinen ihnen recht zu geben – zumal die Nichtbewachung des Gebäudes außerhalb der Öffnungszeiten auch ein polizeiliches Versagen ist.

Diese inakzeptable Situation verlangt nach Gegenmaßnahmen, nach Bestrafung antisemitischer Handlungen und breiten Informationskampagnen in den Einwanderercommunitys. So mancher jedoch macht es sich einfach und beklagt stattdessen pauschal ein Versagen der Migrations- und Asylpolitik.

Ein Fanal dazu kommt aus den USA, aus dem Munde eines im 101. Lebensjahr stehenden Mannes, der als Jude selber aus Deutschland vor den Nazis flüchten musste. Henry Kissinger, Republikaner und wichtiger US-Außenpolitiker der 1960er- und 1970er-Jahre, sieht in der Einwanderung nach Europa den Sündenfall.

"Es war ein großer Fehler, so viele Menschen mit einem kulturell und religiös vollkommen anderen konzeptionellen Hintergrund reinzulassen, weil dadurch Interessengruppen im jeweiligen Land entstehen", sagt Kissinger. Seither wiederholen das Kommentatoren und Poster. Das Argument, dass man Muslime von vornherein nicht ins Land hätte lassen sollen, fügt sich bruchlos in die ausländerfeindliche Grundbefindlichkeit unserer Gesellschaften ein.

Antisemitismus
Auch in Berlin häufen sich die antisemitischen Vorfälle. Nach dem versuchten Anschlag auf eine Berliner Synagoge versammelte man sich zu einer Mahnwache.
APA/dpa/Sven Kaeuler

Wie aus dem Politdrehbuch der FPÖ

Nun wäre Österreich ohne Einwanderung auch von Muslimen, etwa durch das Anwerben türkischer Gastarbeiter in den 1960ern und die folgenden Fluchtbewegungen, die großteils aus muslimisch geprägten Staaten kamen, vor allem eines: ein Land mit weniger Menschen als heute. Die Bevölkerung hätte zahlenmäßig nicht zugenommen, sondern würde stagnieren oder schrumpfen – je nachdem, wie hoch man den Anteil von EU-Binnenmigranten ansetzt, die statt der Türken, Araber und Afghanen gekommen wären.

An den EU-Außengrenzen und rund um Österreich würden wohl hohe Mauern stehen. Das Asylrecht wäre wohl sistiert. Kurz, Österreich wäre ein Land wie aus dem Politdrehbuch der FPÖ.

Dazu ist es nicht gekommen. Die muslimischen Communitys tragen heute zur wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Dynamik bei. Doch auch die mitgebrachten Probleme sind zahlreich – etwa in Gestalt des sich manifestierenden, vielfach antiisraelischen Judenhasses.

Warum wurde dieser viel zu lange tatenlos hingenommen? Vielleicht, weil wir hier in die gleiche Sackgasse wie im Umgang mit dem europäischen Judenhass geraten sind. Auch unter Hiesigen wird das Thema Antisemitismus ungern angesprochen. Verleugnen und Wegschauen statt Wahrnehmen und Durchdenken bestimmen das Bild.

Tatsächlich wabert in Österreich, und nicht nur hier, abseits offizieller Gedenkkultur auch drei Generationen nach dem Holocaust ein Gemisch aus Vorbehalten und Missverständnissen gegenüber Juden und Jüdinnen. Sie sind ein Einfallstor für Verschwörungstheorien und für die Demokratie höchst gefährlich. Um den Antisemitismus in den Einwanderercommunitys zu bekämpfen, müssen wir daher auch über uns selbst sprechen. (Irene Brickner, 22.10.2023)