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In den Köpfen ist immer noch nicht verankert, wie wichtig Vorsorge für die Gesundheit ist, sagt der Arzt Rudolf Likar. Er plädiert dafür, dass man bereits im Kindergarten beginnt, das Bewusstsein für gesunde Ernährung und mehr Entspannung zu schärfen. Nur so könne sich dieses Wissen langfristig etablieren.
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Die Menschen werden immer älter – aber gesund bleiben sie dabei nicht unbedingt. Das hat mehrere Gründe. Einer davon ist das medizinische System in Österreich, das in erster Linie Krankheiten behandelt und nicht die Gesundheit erhält. Dazu kommt, dass das Wissen, wie man gesund bleibt, immer noch nicht ausreichend in den Köpfen etabliert ist. Dabei sind nur etwa sieben Prozent der gesundheitlichen Entwicklung genetisch bestimmt. Das bedeutet, dass wir unsere Gesundheit zum großen Teil selbst in der Hand haben.

Einer, der das immer wieder betont, ist der Anästhesist und Intensivmediziner Rudolf Likar. Der Autor mehrerer Bücher hat soeben, gemeinsam mit anderen Autoren, das Buch Vorsorgen statt behandeln publiziert. Im STANDARD-Gespräch spricht er an, was im Gesundheitssystem nicht stimmt, wo wir falsche Denkansätze haben und warum wir uns mit Messer und Gabel langsam umbringen.

STANDARD: Wir leben in einem System der Versorgung, die Vorsorge ist weniger großgeschrieben. Woran liegt das?

Likar: Weil wir zu wenig investieren. Von den etwa 39,5 Milliarden, die ins öffentliche Gesundheitswesen fließen, werden nur rund zwei Prozent für Prävention verwendet. Das ist viel zu wenig. In Deutschland sind es immerhin 3,7 Prozent der Gelder. Das ist auch nicht so viel, aber im Verhältnis immerhin fast doppelt so viel wie in Österreich. Wir haben in erster Linie eine Reparaturmedizin. Dazu kommen die sekundäre und die tertiäre Prävention, das sind alle Formen der Früherkennung von Krankheiten und Rehabilitation, also die Erholung nach Erkrankungen oder Eingriffen. Aber für die primäre Prävention, das wäre, darauf zu achten, dass Krankheiten gar nicht erst entstehen, wird nichts getan. Und ich glaube, das ist ein ganz großes Manko in unserem System.

STANDARD: Das heißt, hier müsste man mehr Geld in die Hand nehmen?

Likar: Ja, hier müsste die Österreichische Gesundheitskasse mehr investieren. Aber nicht nur dort ist ein Umdenken nötig. Es gab zum Beispiel eine Plakataktion der Ärztekammer mit dem Slogan "Die Gesundheit beginnt beim Arzt". Ich denke, das ist einfach falsch. Die Krankheit beginnt beim Arzt, die Gesundheit beginnt bei jedem Menschen selbst. Die Plakataktion ist auch auf viel Widerstand gestoßen, es wurde sogar dagegen geklagt, und sie musste zurückgezogen werden.

Das System unterstützt den Ansatz, dass die Gesundheit bei einem selbst beginnt, leider nicht. Das beginnt schon beim Arztgespräch, es dauert oft nur ein paar Minuten. Das ist auch nachvollziehbar, weil ein ärztliches Beratungsgespräch wird nicht entsprechend abgegolten. In dieser kurzen Zeit kann man aber keine Arzt-Patienten-Beziehung aufbauen. Dafür werden andere Dinge wie Blutabnahme, Verbandswechsel und mehr honoriert. Das weiß man alles schon lange, aber es wird nichts dagegen getan. Die Regelungen zur Aufwandsvergütung für Ärztinnen und Ärzte haben sich seit Jahrzehnten nicht geändert. Dabei wird jedes Smartphone heutzutage zweimal im Jahr upgedatet. Da kann ja etwas nicht stimmen.

Man darf sich unter diesen Voraussetzungen nicht wundern, dass all jene, die es sich leisten können, zu Wahlärzten und -ärztinnen gehen. Dort bezahlt man nämlich genau für die Zeit und das ausführliche Gespräch. Da entsteht ein umfassendes Bild, man kann eine Patientengeschichte viel besser erfassen, als wenn man 20-mal fünf Minuten aufwendet, in denen man immer nur eine kleine Information bekommt, wie es im Kassensystem oft der Fall ist.

STANDARD: Das ist kein sehr gutes Zeugnis für das Gesundheitssystem. Gibt es auch positive Entwicklungen?

Likar: Ja, durchaus. In Wien etwa gibt es Erstversorgungsambulanzen, die den zentralen Notaufnahmen vorgelagert sind. Das ist ein sinnvolles System, mit dem man viel abfangen kann, warum macht man das nicht überall? Das ist viel effizienter und entlastet die Ambulanzen wesentlich besser, als es die einmal angedachten Ambulanzgebühren tun würden. Durch die entstünde nur zusätzlicher Verwaltungsaufwand und damit natürlich auch Kosten.

STANDARD: In nächster Zukunft werden einige Primärversorgungseinheiten eröffnet. Werden die eine Entlastung bringen?

Likar: Ich bin mir nicht sicher, wie erfolgreich dieses Konzept wirklich ist. Das Hauptproblem, das wir in Krankenhäusern und großen Institutionen haben und das auch Patientinnen und Patienten beklagen, ist, dass es keine Kontinuität in der Betreuung gibt. Man kommt zu dem Arzt oder der Ärztin, die gerade im Dienst sind. Das ist ja der große Vorteil von hausärztlichen Praxen, vor allem auf dem Land, dass der Arzt oder die Ärztin die Personen kennt, womöglich die gesamte Familie inklusive der Krankengeschichte, und nicht jedes Mal nachfragen muss. Dann kann man auch in einem kurzen Arztgespräch sehr viel klären. Genau diese Kontinuität in der Betreuung ist bei den Primärversorgungseinheiten wieder nur bedingt gegeben.

STANDARD: Wird sich an den Problemen mit den nun abgeschlossenen Finanzausgleichsverhandlungen etwas ändern? Da war ja die Finanzierung des Gesundheitssystems ein wesentlicher Teil davon ...

Likar: Wie und was genau sich dadurch ändern wird, ist noch nicht klar. Bis jetzt wurden die Rahmenbedingungen für die zukünftige Verteilung des Geldes beschlossen, die Details werden erst ausverhandelt. Aber das Hauptproblem in diesem System ist, dass die Finanzierung nicht in einer Hand ist, sondern aus mehreren Kanälen kommt. Und das ändert sich durch das jetzige Übereinkommen nicht.

Wir haben zum Beispiel zu viele Krankenhäuser, oder genauer gesagt, sehr viele kleine Bezirkskrankenhäuser, die jeweils viele unterschiedliche Abteilungen haben. Zu den einzelnen gesundheitlichen Problemen gibt es dann aber oft nur sehr geringe Fallzahlen. Das ist auf mehreren Ebenen nicht gut. Es bedeutet einen enormen Arbeitsaufwand in der Betreuung, diese Krankenhäuser haben oft zu wenig fachärztlichen Nachwuchs, weil die Jungen lieber in große Zentren mit vielen Fallzahlen gehen, weil sie dann eine bessere Ausbildung bekommen. Das wirkt sich natürlich auf die Qualität der Behandlung in den kleinen Häusern aus. Und es führt dazu, dass Abteilungen mit freiberuflichen Ärzten, die an bestimmten Tagen da sind, aufrechterhalten werden. Da muss man wirklich überlegen, ob jede einzelne medizinische Behandlung an jedem Standort angeboten werden muss. Würde man Schwerpunktkrankenhäuser etablieren, würde das die Qualität deutlich steigern, und man kann trotzdem kleinere Krankenhäuser aufrechterhalten. Will man etwas Bestimmtes einkaufen, fahren die Menschen auch 100 Kilometer weit, ohne darüber nachzudenken. Warum nicht auch für einen medizinischen Eingriff?

Wir sprechen hier natürlich nicht von Notfallversorgung, die muss möglichst wohnortnahe verfügbar sein. Aber bei planbaren Operationen sollte das kein Thema sein.

Buchcover Vorsorgen statt behandeln
Rudolf Likar hat soeben das Buch "Vorsorgen statt behandeln" publiziert, gemeinsam mit Herbert Janig, Georg Pinter, Michael Schmieder, Reinhard Sittl und Slaven Stekovic. Es ist im Ueberreuter-Verlag erschienen.
Ueberreuter

STANDARD: Sie pochen auf Vorsorge als einen der wichtigsten Gesundheitsparameter. Dieser Zugang ist aber noch nicht sehr etabliert in den Köpfen. Nicht in den politischen Köpfen, bei weitem nicht in allen ärztlichen Köpfen und auch nicht in jenen der Patientinnen und Patienten. Wie kann man das ändern?

Likar: Da muss tatsächlich ein massives Umdenken stattfinden. Neueste Daten zeigen, dass womöglich nur vier bis sieben Prozent unserer gesundheitlichen Entwicklung genetisch festgeschrieben sind. Das heißt, wir haben es selbst in der Hand, wie wir altern. Theoretisch wissen wir auch, wie wir möglichst gesund bleiben, dass Ernährung, Bewegung, weniger Stress, Schlaf und soziale Eingebundenheit wichtige Parameter sind. Die Erkenntnis, dass wir uns, überspitzt formuliert, mit Messer und Gabel selbst umbringen können und wie wir das ändern, muss sich aber erst einmal in den Köpfen nachhaltig durchsetzen.

Und damit das besser gelingt, muss man im Grunde schon im Kindergarten beginnen, das entsprechende Wissen zu vermitteln, und das in den Schulen kontinuierlich fortsetzen, damit das Bewusstsein für die eigene Gesundheitsverantwortung tief in den Köpfen verankert wird. Man muss sich auch überlegen, wie man dieses Wissen zielgruppengerecht vermittelt. Schaut man sich die Werbung an, taucht da nur dann ein Apfel auf, wenn Haftcreme für die dritten Zähne beworben wird. Aber nirgends wird kommuniziert, dass ein Apfel ein super Nahrungsmittel ist. In den Supermärkten findet sich jede Menge Snacks und Junkfood genau bei der Kasse. Auch hier müsste es wohl Regelungen geben, die das besser steuern.

STANDARD: Wer soll das machen? Die Politik?

Likar: Ja, die ist hier ganz klar gefordert, um das Gesundheitswissen zu fördern. Aber man könnte durchaus auch über eine Art Anreizsystem nachdenken. Für das Auto brauche ich jedes Jahr ein Pickerl, das ist ganz selbstverständlich. Aber für die eigene Gesundheit ist das nicht nötig. Es geht da nicht um Bestrafung oder etwas in diese Richtung. Aber ein Bonussystem, wenn man vereinbarte Ziele erfüllt, wäre ein guter Ansatz. Wenn das Auto vollkaskoversichert ist und man hat keinen Unfall, wirkt sich das ja auch auf die Prämie aus.

STANDARD: Ist da nur das System gefordert? Oder müssen die einzelnen Personen auch etwas tun?

Likar: Alle sind da gefordert. In Österreich hört man immer sehr viel von Patientenrechten. Aber es gibt natürlich auch Patientenpflichten. Jeder Mensch ist auch für sich selbst verantwortlich. Wenn man jeden Tag eine Schachtel Zigaretten raucht und sich wenig bis nicht bewegt, kann nicht nur das Gesundheitssystem für das eigene Wohlergehen verantwortlich gemacht werden, da gibt es natürlich eine Eigenverantwortung. Mit einem Bonussystem könnte man da möglicherweise etwas bewegen.

STANDARD: Wir leben in einer Gesellschaft, die sich massiv verändert. Die Menschen werden immer älter, gleichzeitig wird der Lebensstil tendenziell immer ungesünder, moderne Technologien fördern das Bewegungspotenzial nicht gerade. Welche Herausforderungen kommen da noch auf uns zu?

Likar: Dazu muss man prinzipiell einmal sagen, dass älter werden nichts Schlechtes ist, im Gegenteil. Aber wichtig ist, dass man diese gewonnenen Lebensjahre auch in Gesundheit verbringen kann, und da hapert es bei uns. Dazu muss man sich nur ein paar Zahlen anschauen. In Österreich arbeiten im Alter zwischen 55 und 65 Jahren rund 55 Prozent aller Menschen. In Skandinavien sind das etwa 70 Prozent. Das hat gleich mehrere Auswirkungen auf die Lebensqualität. Arbeit kann ja auch zur Lebensfreude beitragen. Man ist im Berufsleben automatisch sozial besser eingebunden, man bekommt Anerkennung und Dankbarkeit. Und es wurde mittlerweile in zahlreichen Studien gezeigt, dass Menschen mit besserer sozialer Einbindung glücklicher sind, gesünder und weniger Depressionen haben bis hin zu einer niedrigeren Suizidrate.

Gesundheit ist ja nicht nur die Abwesenheit von Krankheit, die ist definiert als körperliches, psychisches und soziales Wohlbefinden. Das zu verbessern sind die großen Herausforderungen unserer Zeit.

STANDARD: Prinzipiell wissen wir, wie gesundes Leben geht. Aber warum setzen wir dieses Wissen trotzdem so oft nicht in die Tat um? Oder handeln sogar wieder besseres Wissen?

Likar: Weil das auch dazugehört. Franz Klammer hat zu mir gesagt, kleine Sünden sind Chili für die Seele. Die braucht man auch. Ich nenne gerne die fünf L, die die Gesundheit ausmachen: Laufen, Lernen, Lachen, Liebe, Lust. Man soll sich bewegen, offen für Neues sein, Spaß und gute Beziehungen haben und man sollte Freude haben an den Dingen, die man tut. Da gehören eben auch ab und zu kleine Sünden dazu. Es ist ja erst die Dosis, die das Gift macht. (Pia Kruckenhauser, 13.10.2023)