Galaxien, Antimaterie, Alpha, Cern, Experiment, Gravitation, Rätsel
Hätten sich Antimaterie und Materie kurz nach dem Urknall gegenseitig völlig vernichtet, würde der Kosmos heute anders aussehen.
Foto: ESA/Hubble & NASA, F. Pacaud, D. Coe

Auf der Suche nach einer Erklärung für die Gesetze des Universums haben Forschende das Standardmodell der Elementarteilchenphysik entwickelt. Das Theoriengebäude soll die Realität mathematisch abbilden, aber von einer zufriedenstellenden Darstellung von allem ist man immer noch weit entfernt. Zu viele Fragen lassen sich mit dem Standardmodell nicht beantworten, zu zahlreich sind die Löcher, die nach wie vor in dieser Theorie klaffen.

Wie da Quantenphysik und die Relativitätstheorie friktionsfrei hineinpassen sollen, ist beispielsweise noch weitgehend unklar. Und noch einen weiteren großen Mangel hat es: Das Standardmodell kann nicht erklären, warum die Materie im Kosmos überhaupt existiert.

Wo ist die ganze Antimaterie?

Eigentlich sollten nämlich nach diesem Modell zu Beginn Materie und Antimaterie in gleicher Menge entstanden sein. Antimaterie ist der Zwilling der regulären Materie, wenn auch mit einigen entgegengesetzten Eigenschaften. So haben Antiprotonen eine negative Ladung, während Protonen eine positive Ladung haben. Bei Antielektronen (auch als Positronen bezeichnet) und Elektronen verhält es sich ebenso.

Antimaterie, Alpha, Cern, Experiment, Gravitation, Rätsel
Der Kontrollraum des Alpha-Experiments am Kernforschungszentrum Cern bei Genf.
Foto: Joel Fajans, UC Berkeley

Treffen die beiden Materiesorten aufeinander, lösen sie sich in einem Annihilationsprozess vollständig in Energie auf. Das bedeutet, dass sich beide Materiearten eigentlich kurz nach dem Urknall gegenseitig wieder ausgelöscht haben müssten. Dass dies nicht geschehen ist, beweist der Kosmos um uns herum.

Von Schwerkraft abgestoßen?

Um diesen Fragen auf den Grund zu gehen, spielen Experimente an Teilchenbeschleunigern wie jenen am europäischen Kernforschungszentrum Cern bei Genf eine wichtige Rolle. Dort wurde beispielsweise der Überlegung nachgegangen, dass sich Antimaterie vielleicht im Unterschied zu herkömmlicher Materie von Gravitation abgestoßen fühlt. Es wäre eine elegante, obschon recht unwahrscheinliche Lösung für das Problem unserer Existenz, denn wenn Materie und Antimaterie nach dem Big Bang voneinander fortstreben, können sie sich nicht gegenseitig in einem Energieblitz vernichten. Frühere Beobachtungen wiesen allerdings nicht auf ein solches Verhalten hin.

Laut den Ergebnissen der Kollaboration namens Antihydrogen Laser Physics Apparatus (Alpha) am Cern, die nun im Fachjournal "Nature" vorgestellt wurden, wird man diese Hypothese nun wohl endgültig ad acta legen müssen. Ein internationales Forschungsteam hat den Weg einzelner Antiwasserstoffatome genau verfolgt und dabei eine eindeutige Antwort gefunden: Antimaterie fällt ganz normal nach unten. Wohin all die Antimaterie des beobachtbaren Kosmos verschwunden ist, bleibt freilich weiterhin rätselhaft.

Antimaterie, Alpha, Cern, Experiment, Gravitation, Rätsel
Manche mochten noch gehofft haben, dass Antimaterie unter Schwerkrafteinwirkung abgestoßen wird. Die Alpha-Experimente lieferten nun Beweise, dass das dem nicht so ist.
Foto: Cern/Alpha

Nur geringe Mengen

"Nach Einsteins allgemeiner Relativitätstheorie sollte sich Antimaterie genauso verhalten wie Materie", sagt Jonathan Wurtele, Plasmaphysiker an der University of California in Berkeley und Mitglied der Alpha-Kollaboration. "Viele indirekte Messungen deuten darauf hin, dass die Schwerkraft wie erwartet mit Antimaterie wechselwirkt. Aber bisher hatte niemand eine direkte Beobachtung gemacht, die ausschließen konnte, dass sich Antiwasserstoff in einem Gravitationsfeld nach oben und nicht nach unten bewegt."

Die vielleicht größte Herausforderung für Teilchenphysiker im Umgang mit Antimaterie ist zu verhindern, dass sie mit normaler Materie in Berührung kommt. "Solche Annihilationen sind die dichteste Form der Energiefreisetzung, die wir kennen", sagt Joel Fajans, Mitglied der Alpha-Kollaboration und Plasmaphysiker an der University of California, Berkeley. Beim Alpha-Experiment besteht freilich keine Gefahr einer Explosion. Die verwendete Menge an Antimaterie ist so gering, dass die durch Annihilation erzeugte Energie nur von empfindlichen Detektoren wahrgenommen werden kann.

In der Magnetfalle

"Dennoch müssen wir mit der Antimaterie sehr vorsichtig umgehen, sonst geht sie verloren", so Fajans. "Vereinfacht gesagt stellen wir Antimaterie her und lassen sie im übertragenen Sinn von einem Turm fallen", erklärt Wurtele. "Wir lassen die Antimaterie los und sehen, ob sie auf- oder absteigt." Für das Alpha-Experiment wurde der Antiwasserstoff in einer zylindrischen Vakuumkammer mit einer Magnetfalle, dem sogenannten Alpha-g, eingesperrt.

Dann reduzierte das Team die Stärke des oberen und unteren Magnetfelds der Falle, bis die Antiwasserstoffatome entweichen konnten und unter den relativ schwachen Einfluss der Schwerkraft gerieten. Jedes Antiwasserstoffatom, das aus der Magnetfalle entkam, berührte die Kammerwände oberhalb oder unterhalb der Falle und vernichtete sich, was die Wissenschafter nachweisen und zählen konnten.

Antimaterie, Alpha, Cern, Experiment, Gravitation, Rätsel
Diese Grafik zeigt Antiwasserstoffatome im Alpha-g-Experiments am Cern, das die Wirkung der Schwerkraft auf Antimaterie nachgewiesen hat.
Illustr.: U.S. National Science Foundation

Ausgeschlossen

Dabei zeigte sich: Wenn die abgeschwächten Magnetfelder oben und unten genau ausbalanciert waren, wurden etwa 80 Prozent der Antiwasserstoffatome im unteren Bereich der Falle vernichtet. Das Ergebnis stimmte mit dem Verhalten einer Wolke aus normalem Wasserstoff unter den gleichen Bedingungen völlig überein, oder mit anderen Worten: Die Schwerkraft ließ Antiwasserstoff genauso nach unten fallen wie herkömmliche Wasserstoffatome.

Die Theoretiker müssen sich wohl anderen Lösungen für das Baryogenese-Problem, dem Fehlen der Antimaterie im beobachtbaren Universum, zuwenden. "Wir haben ausgeschlossen, dass die Antimaterie von der Gravitationskraft abgestoßen und nicht angezogen wurde", sagt Wurtele.

Weitere Messungen

"Das heißt aber nicht, dass es gar keinen Unterschied in der Gravitationskraft auf Antimaterie gibt." Ob es solche Unterschiede gibt, sollen künftig genauere Messung zeigen. Neben der Verfeinerung ihrer Messung der Schwerkraftwirkung will das Alpha-Team auch die Wechselwirkung von Antiwasserstoff mit elektromagnetischer Strahlung durch Spektroskopie näher unter die Lupe nehmen. "Wenn sich Antiwasserstoff irgendwie von Wasserstoff unterscheiden würde, wäre das eine revolutionäre Sache", meint Wurtele. "Denn unsere bisherigen Theorien besagen, dass sich beide gleich verhalten sollten." (Thomas Bergmayr, 27.9.2023)