Eine Gruppe von Menschen, einige halten Flaggen Nigers hoch, ein Mann ein weißes T-Shirt mit der Aufschrift
"Frankreich muss gehen" – im Niger sind die Ressentiments gegen die einstige Kolonialmacht groß.
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Manche Ereignisse prägen sich stärker ein als andere und bleiben als Meilensteine einer Amtszeit in Erinnerung. Ich werde nie vergessen, wie ich im Dezember 2019 in Paris an einer feierlichen Veranstaltung teilnahm, um 13 in Mali gefallenen französischen Soldaten die letzte Ehre zu erweisen. Es war mein erster offizieller Termin als Hoher Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik.

Auch mein Besuch im Niger im Juli dieses Jahres wird mir in Erinnerung bleiben. Bei der Einweihung des Solarkraftwerks Gorou Banda in der Nähe von Niamey konnte ich mich von den konkreten Ergebnissen überzeugen, die die Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Union und dem Niger hervorgebracht hat. In Agadez sah ich hunderte mit EU-Unterstützung gebaute Sozialwohnungen. Mit ehrgeizigen Visionen und Maßnahmen gab der nigrische Präsident Mohamed Bazoum Anlass zu echter Hoffnung in einer Region, die mehr und mehr in autoritäre Hände gefallen war. Deshalb war der Militärputsch vom 26. Juli, kurz nach meinem Besuch, ein Schock für mich.

"Die Zukunft der Demokratie in der gesamten Region steht auf dem Spiel."

Nach einer Beratung mit europäischen Amtskollegen, bei der auch der nigrische Außenminister und der Präsident der Kommission der Wirtschaftsgemeinschaft der westafrikanischen Staaten (Ecowas) zugegen waren, möchte ich ein paar Gedanken zur Lage im Niger und im Sahel weitergeben.

Wir müssen – "so lange wie nötig" – an unserer unerschütterlichen Unterstützung für den demokratisch gewählten Präsidenten Bazoum festhalten und eine Rückkehr zur verfassungsmäßigen Ordnung im Niger fordern. Die Zukunft der Demokratie in der gesamten Region steht auf dem Spiel. Der Demokratie, die die Menschen im Niger verlangen, für die sich die Ecowas einsetzt und die die EU weltweit verteidigt.

Keine Nebenabsprachen

Auch an unserer Unterstützung für die Ecowas müssen wir festhalten. Es gibt keinen Raum für Nebenabsprachen oder parallele Vermittlungskanäle. Als Europäer unterstützen wir schon lange die Suche nach afrikanischen Lösungen für afrikanische Probleme. Zu einem Zeitpunkt, an dem die Ecowas einen beispiellos deutlichen und konsequenten Standpunkt vertritt, müssen wir unseren Worten Taten folgen lassen.

Über die Verteidigung ihrer demokratischen Werte hinaus hat die EU auch ein großes Interesse daran, dass der Niger auf den Weg der verfassungsmäßigen Ordnung zurückkehrt. Fällt ein weiteres Land im Sahel in die Hände einer Militärjunta, so hätte dies weitreichende negative Folgen für Europa, was die Sicherheit, die Migrationsströme und das geopolitische Kräftegleichgewicht betrifft. Wer glaubt, eine Militärjunta könnte terroristische Bewegungen oder Menschenhandel wirksam bekämpfen, irrt. Die besten Bollwerke gegen solche Bedrohungen sind demokratische Staaten mit dem Ehrgeiz, dem Willen und den Mitteln, ihrer Bevölkerung neue Chancen zu eröffnen.

"Bisweilen haben wir unseren Blick zu sehr nur auf die Sicherheitsdimension gerichtet."

Die politischen Maßnahmen der EU hinsichtlich der Sahelregion waren in den letzten Jahren nicht so erfolgreich wie erhofft. Bisweilen haben wir unseren Blick zu sehr nur auf die Sicherheitsdimension gerichtet, und unsere Bemühungen, zur Stärkung der Rechtsstaatlichkeit und zur Bereitstellung grundlegender Dienste beizutragen, waren nicht ausreichend oder nicht sichtbar genug. Auch die "strategische Geduld", die wir den Militärjunten in der Region gegenüber gezeigt haben, hat zu keinen konkreten Ergebnissen geführt, sondern dazu, dass Nachahmer auf den Plan gerufen wurden.

Wir müssen zwar Selbstkritik üben, dürfen jedoch nicht vergessen, dass der Fahrplan Europas für den Sahel in den letzten Jahren ein Fahrplan ebendieser Region war. Wir haben unsere Soldaten, unser Geld und politisches Kapital für die Region eingesetzt, weil die Sahelländer uns darum gebeten haben.

Bequemer Sündenbock

Was können wir jetzt tun? Wir können unsere Budgethilfe für den Niger und die sicherheitspolitische Zusammenarbeit mit dem Niger aussetzen, wir können darauf hinarbeiten, Sanktionen zu verhängen, und wir können – als Reaktion auf die ungerechtfertigte Ausweisung des Botschafters eines unserer Mitgliedsstaaten – Solidarität zeigen. Wir müssen aber noch weiter gehen. Es ist nicht sinnvoll, so weiterzumachen wie bisher und ein anderes Ergebnis zu erwarten; daher müssen wir einen neuen Ansatz verfolgen.

Die sicherheitspolitische Zusammenarbeit, die Visavergabe und die Programme zur wirtschaftlichen Entwicklung müssen überdacht werden, und wir müssen schnell entscheiden, was sich ändern muss – sowohl in Bezug auf den Niger als auch auf andere Länder im Sahel. Wir müssen das Kräftemessen mit den Militärjunten angehen, ohne in die Fallen von Regimen zu geraten, die ihre Macht in erster Linie auf Manipulation und Desinformation stützen. Da sie kaum Erfolge vorweisen können, wenn es um die Terrorismusbekämpfung oder die wirtschaftliche Entwicklung geht, haben die Junten der Region darin ihr wirksamstes Instrument gefunden.

"Niemand sollte Frankreichs Schwierigkeiten in der Region mit Schadenfreude betrachten."

Der Sahel ist ein Test für die gesamte EU. Niemand sollte Frankreichs Schwierigkeiten in der Region mit Schadenfreude betrachten. Das Land ist zu einem bequemen Sündenbock für Junten geworden, die so mit Leichtigkeit nationalen Zusammenhalt fabrizieren und gleichzeitig von ihrem eigenen Versagen und ihrem Machtmissbrauch ablenken können. Frankreich ist jedoch nicht das Problem im Sahel; es sind die Militärjunten, denn ihnen fehlen die Mittel für eine tatsächliche Terrorismusbekämpfung und der Ehrgeiz, das tägliche Leben und die Zukunftsaussichten ihrer Bevölkerung zu verbessern.

Diejenigen – in Europa oder anderswo –, die sich über die europäischen Probleme im Sahel freuen, haben nicht verstanden, was auf dem Spiel steht. Wir alle werden einen hohen Preis zahlen, wenn wir nicht geschlossen und geeint bleiben. Nur ein geeintes Europa kann Einfluss auf den Lauf der Ereignisse üben. Die nächsten Wochen werden zeigen, ob wir der Aufgabe gewachsen sind, den Erwartungen in dieser strategischen Region gerecht zu werden. (Josep Borrell, Copyright: Project Syndicate, 13.9.2023)