Radfahrer auf Schotterstraße im Wald.
Das Rad ist für mich kein Alltagsgegenstand. Im Gegenteil: Radfahren ist meine Antithese zum Alltag.
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Plötzlich bleibt Sam stehen. Mit einer Mischung aus Furcht und Neugierde starrt er auf den Weg vor sich: "Wenn ich noch einen Schritt mache, bin ich so weit von zu Hause fort wie noch nie zuvor." Dann nimmt er all seinen Mut zusammen – und geht weiter.

Es ist diese Szene aus dem ersten Teil des Fantasy-Epos Herr der Ringe, die mir immer wieder in den Sinn kommt, wenn ich auf dem Rennrad oder dem Gravelbike unterwegs bin. "Hier war ich noch nie", denke ich und trete in die Pedale, um weit wegzukommen vom Gewohnten.

Oft fragen mich Menschen, warum ich als leidenschaftlicher Radler im Alltag nicht mit dem Rad unterwegs bin. Ich antworte dann, dass ich mich im Wiener Stadtverkehr als Radler sehr unwohl fühle, deshalb lieber zu Fuß gehe oder mit den Öffis fahre.

Dann lieber Gänsehaut

Das ist aber nur ein Teil der Wahrheit. In der Großstadtwirklichkeit ist das Rad ein Nutzgerät geworden – für mich ist es aber etwas ganz anderes. Rad zu fahren ist für mich die Antithese zum Alltag. Wenn meine Hände den Lenker greifen, die Schuhe in die Pedale einklicken, die Finger über die Schalthebel gleiten – dann überkommt mich jedes Mal aufs Neue eine Gänsehaut.

Gravelbike in herbstlichem Wald
Was in Washington, Moskau oder der Ukraine passiert, ist am Rad plötzlich sehr weit weg.
Lukas Achleitner

Als Redakteur verbringe ich täglich viele Stunden damit, virtuell zu verfolgen, was in Echtzeit an den entferntesten Orten der Welt geschieht. Was passiert in diesem Moment in der Ukraine, in Moskau, in Washington? Krisen weltweit. Wo ich hier und jetzt bin, spielt keine Rolle. Auf dem Rad hole ich den Augenblick zu mir zurück.

Rennradfahrern wird oft – und teils auch zu Recht – vorgeworfen, es gehe ihnen nur um Selbstoptimierung, sie würden die Leistungslogik noch in ihrer Freizeit auf die Spitze treiben. Mir geht es jedoch nicht um Selbstoptimierung, sondern um Selbsterfahrung – auch wenn das vielleicht abgedroschen klingen mag. Dass ich schneller werde, je mehr ich fahre, ist durchaus willkommen. Meine steigende Fitness sorgt nämlich dafür, dass ich in der verfügbaren Zeit weiter komme, mehr sehe, mehr erlebe.

Meine Lust am Radfahren ist nicht getrieben von der Gier nach Geschwindigkeit und Perfektion, sondern von einer Gier nach einer ganz besonderen Form der Beziehung: jener zur Welt.

Was zählt

Der Umwelt ausgesetzt zu sein, der Wechsel von Temperatur, Licht, Schatten, Wind, Trockenheit und Regen, den der Körper ungefiltert durchlebt; die Steilheit eines Anstiegs, die sich augenblicklich in Herzschlag, Schweiß und brennende Beine überträgt; die Geschwindigkeit einer Abfahrt, die das Adrenalin bis in die Finger schießen lässt, die sich um den Lenker klammern! An jeder Ecke wartet ein Abenteuer? Das wäre vielleicht etwas übertrieben.

Aber für ein paar Stunden, einen Tag, manchmal auch mehrere Tage interessiert mich nicht, was in der Ukraine passiert oder welcher Politiker zurücktritt. Für mich zählt dann, wo ich endlich Wasser finde, um meine Flaschen wieder aufzufüllen. Ob die Gewitterwolke schneller im Tal ist oder ich. Mir ist wichtig, ob das gerade wirklich eine Schlange war oder doch nur ein auffällig beweglicher Zweig. Neugierig bleiben. Das ist das Ziel. Alle anderen Bedürfnisse reduzieren sich auf das Wesentliche. Für mehr bleibt kein Raum. So wie vor ein paar Jahren, an einem Tag im Juli.

In Herr der Ringe weiß Sam noch nicht, was ihn erwartet oder wohin ihn seine Reise führen wird – zum Schicksalsberg. Ich kenne meinen Schicksalsberg bereits: der Großglockner, der höchste Berg Österreichs. Ihn nehme ich an besagtem Julitag zum Abschluss einer viertägigen Tour von Wien aus in Angriff. Bislang hat die Sonne geschienen. Am Morgen des letzten Tages regnet es in rauen Mengen. Im Tal ist es noch angenehm warm. Je weiter ich mich aber die Serpentinen der Großglockner-Hochalpenstraße von Norden kommend nach oben kämpfe, desto tiefer sinkt die Temperatur. Dichter Nebel lässt mich nicht mehr weiter sehen als bis zur nächsten Kurve. Normalerweise ein Horrorszenario auf dem Rad.

Rennradfahrer im Nebel am Großglockner
Schicksalsberg: der Großglockner.
Gerhard Windisch

An diesem Tag aber ist das schlechte Wetter ein Geschenk. An einem sonnigen Tag im Hochsommer würden sich hier sonst die Autos und Motorräder im Kolonnenverkehr nach oben wälzen. Heute begegnen mir vielleicht zwei, drei Pkws in drei Stunden. Der Berg gehört mir. Aber es ist keine Eroberung, sondern eine behutsame, beschwerliche Annäherung. Die Kehren sind steil. In meinen Beinen spüre ich die vielen Kilometer, die mich in den Tagen zuvor bis an den Fuß des Berges herangeführt haben. Auch wenn ich wegen des Nebels nichts vom Gipfel sehen kann: Mit jedem Tritt ins Pedal merke ich, wie er mir vertrauter wird. Als ich auf der Passhöhe auf 2504 Metern ankomme, liegt die Temperatur nur mehr knapp über dem Gefrierpunkt. Mir ist kalt, ich bin erschöpft – aber dankbar, hier zu sein. Der Berg gehört seitdem zwar nicht mir, aber zu mir.

Am Ende ist es Öd

Längere Reisen wie die von Wien auf den Großglockner bleiben lange in Erinnerung. Und ja, man kann auch für Touren oder Rennen in den Kaukasus fliegen oder nach Neuseeland oder in die Anden. Spektakulärer, weiter, gut fürs Instagram-Profil. Das "Hier war ich noch nie", das Sam innehalten lässt, gibt es aber auch dort, wo man einfach einmal falsch abbiegt. Oder sich bewusst gegen die gewohnte Runde entscheidet. Am Ende wartet dann nicht immer ein beeindruckender Ausblick, sondern manchmal auch nur Orte wie Öd im Wienerwald. Nicht jeden Tag endet ein Abenteuer auf dem Schicksalsberg. Aber es lohnt sich jeden Tag loszufahren. (Michael Windisch, 24.8.2023)