Sanft schunkelnd lasse ich – Höhenmeter für Höhenmeter – die brütende Hitze hinter mir. Die Morgensonne hat die schroffen Felsflanken an diesem Sommermorgen bereits in warmes Licht getaucht. Im Tal flimmert die Luft über dem Asphalt, Menschen in Anzügen stöhnen unter den hohen Temperaturen. Mein Ziel liegt auf 3.250 Metern, auf dem Hintertuxer Gletscher im Tiroler Zillertal, Österreichs einzigem Ganzjahresskigebiet, in einer Eishöhle 30 Meter unter der Piste.
Ich habe eine dicke Daunenjacke dabei, Mütze, Badeanzug und Schwimmbrille. Und ein ärztliches Attest, das belegt, das mein Körper bereit ist für das, was mich dort oben erwartet: eines der kältesten Gewässer, die es – natürlich vorkommend – auf Erden gibt.
Mir gegenüber in der Gondel sitzt Roman Erler, ein hochgewachsener, weißbärtiger Mann in schweren Bergstiefeln und Funktionskleidung. Kaum jemand kennt den Hintertuxer Gletscher so gut wie er. Er hat schon hunderte Gäste auf die hohen Gipfel der Tuxer Alpen geführt, ist Ski- und Snowboardlehrer – und seit einigen Jahren Unternehmer. 2007 stößt Erler durch Zufall auf ein seltenes Naturjuwel.
Beim Abstieg vom Olperer, dem höchsten Gipfel der Tuxer Alpen, fällt dem gebürtigen Zillertaler eine rund zehn Zentimeter breite Spalte im Eis auf. Dort, wo sich die steilste Skipiste ins Tal hinabschlängelt, die Piste Nummer 5. Dort, wo es normalerweise gar keine Spalten gibt. Erler wird stutzig, stapft mit Steigeisen gerüstet dorthin. Im Schein seiner Stirnlampe erblickt er einen geräumigen Hohlraum direkt unter der Piste.
Besondere Badestätte
Er kehrt zurück, erschließt die Höhle zunächst Meter für Meter selbst. Irgendwann entdeckt er, inmitten des vermeintlich ewigen Eises, flüssiges Wasser. In einer rund 50 Meter langen und bis zu 28 Meter tiefen Gletscherspalte hat sich ein See gebildet. Im Wasser gibt es keine Ionen, weshalb es auf unter null Grad Celsius abkühlen kann – und trotzdem flüssig bleibt. Erler ist wohl der erste Mensch, der in diesem Wasser schwimmt. Im Stockfinsteren steigt er damals in das kühle Nass, ganz alleine, mit einem Neoprenanzug bekleidet.
Seltenes Naturphänomen
Heute ist der Natureispalast zu einer Touristenattraktion geworden, der Gletschersee ist hübsch ausgeleuchtet, Schlauchboote und Stand-up-Paddles stehen bereit. Mehr als 50.000 Besucherinnen und Besucher pro Jahr tappen über schwarze Gummimatten und steile Aluminiumleitern in den Bauch des Gletschers hinab, um das Naturphänomen zu bestaunen. Die wenigsten gehen ins Wasser. "Hohlräume im Eis sind normalerweise sehr kurzlebig", erklärt mir Erler. Durch die Bewegung des Eises würden Risse und Spalten für gewöhnlich schnell geschlossen. Doch hier ist der Gletscher am Fels festgefroren, der Natureispalast, der seit 2008 für Gäste offensteht, ist stabil.
Eine Tour im Eispalast kostet 39 Euro pro erwachsener Nase, 15 Euro pro Kind. Gegen Aufpreis oder im Rahmen eines Workshops darf man Abtauchen ins kühle Nass. Josef Köberl, österreichischer Eisschwimmprofi und mehrfacher Weltrekordhalter, bietet solche Workshops an. Er hat mit dem Eisschwimmen begonnen, um sich für die Durchquerung des Ärmelkanals vorzubereiten, erzählt er mir, als er furchtlos in knapper Badehose in der Eishöhle vor mir steht.
Ich, neben ihm noch in Daune gehüllt und leicht frierend, lausche, als er – noch immer plaudernd – Schritt für Schritt ins minus 0,5 Grad kalte Wasser steigt. Er wirkt gelassen und ruhig, wie er da bloßfüßig auf der Eisscholle steht und mich auffordert, langsam ins Wasser zu steigen. Von Aufwärmübungen rät er ab, da würden die Poren geöffnet und der Körper durch die plötzliche Kälte noch stärker geschockt. Auch ich bin mittlerweile in Schwimmkleidung, mein Herz pocht.
"Atme tief durch den Bauch, setz dich dann kurz auf die Leiter, steck deine Hände in deine Achselhöhlen", rät Köberl. Ich spüre, wie die Kälte in meine Gliedmaßen kriecht, ein scharfer Schmerz meine Füße durchdringt. Um meine Taille hängt eine quietschgelbe Boye. Köberl sagt, er achte bei den Teilnehmerinnen und Teilnehmern auf deren Bewegungen und die Augen. Eisschwimmen kann gefährlich sein, auch Köberl steigt nie allein in kalte Gewässer, hat immer eine Boje dabei. Ich konzentriere mich auf meine Atmung. Noch zwei Schritte, dann stehe auch ich auf der Eisscholle.
Wie in Watte gepackt
Mein Körper ist plötzlich wie in Watte gehüllt, die Schmerzen sind weg, eine seltsame Behaglichkeit breitet sich aus. Ich verspüre eine tiefe, innere Ruhe, beuge die Knie und tauche ab, den Blick nach unten gerichtet, wo Münzen abergläubischer Touristinnen und Touristen am Grund glitzern. Nach drei kräftigen Zügen kann ich wieder stehen. Flugs klemme ich meine Hände unter die Achseln. Mein Körper ist im Überlebensmodus, konzentriert sich auf die lebenswichtigen Funktionen. Zwischen den Schulterblättern ist es noch immer sehr warm.
Mein Eisschwimmcoach ist hier auf dem Hintertuxer Gletscher ein Star, auf dem Hinweg sind wir an einem Köberl im Schwimmhoserl aus Pappe vorbeispaziert. 2021 ist er im Gletschersee 38 Minuten und 32 Sekunden lang hin und her geschwommen: bis vor kurzem der Weltrekord. Gegen Ende war er nicht mehr ansprechbar, erzählt er. Seine Fingerkuppen hat er sechs Wochen kaum gespürt. Ich klettere bereits nach knapp zwei Minuten wieder aus dem See, stolz und durchdrungen von einem Feuerwerk von Endorphinen, die meinen Körper beuteln. Ich zittere, minutenlang. Und kann nicht aufhören zu grinsen. (Maria Retter, 22.8.2023)