Reinhold Messner
Reinhold Messner kritisiert, dass die einst gelebte Solidarität am Berg verloren gegangen ist.
APA/dpa/Roland Weihrauch

Für Reinhold Messner sind die Umstände des Todes von Mohammad Hassan am K2 ein absolutes Armutszeugnis für den Alpinismus von heute. Der 78-jährige Südtiroler nennt ihn Pistenalpinismus. Die einst gelebte Solidarität am Berg sei durch die Banalisierung des Sports verloren gegangen.

STANDARD: Ist es für Sie vorstellbar, dass so viele Menschen jemanden sterben lassen?

Messner: Das ist in letzter Zeit nicht häufig, aber doch wiederholt passiert, ähnlich auch am Everest. Das Ganze hängt mit der Art und Weise zusammen, in der diese Berge bestiegen werden. Einheimische oder auch Sherpas präparieren den Berg für Massenaufstiege. Das ist harte Arbeit. Dann werden diese Sherpas, Hunza oder Balti eingesetzt, um diese Klienten hinaufzubringen, indem sie ihnen die Sauerstoffflaschen nachtragen oder das Essen bringen. Die werden betreut wie im Kindergarten. Diese Menschen sind nicht erfahrene Alpinisten, die haben großteils nicht die Fähigkeit, einen Verunfallten zu retten, weil sie generell für diesen Berg nicht vorbereitet sind. Weil sie diesen Aufstieg mit aller Sicherheitsmaschinerie und Erleichterung kaufen. Am Everest werden sogar Hubschrauber eingesetzt, um über die ersten schwierigen Passagen hinweg bis auf 6.500 Meter zu kommen.

STANDARD: Und am K2?

Messner: Am K2 ist das nicht möglich, weil die Pakistani aufgrund der Nähe zur chinesischen Grenze nur das Heer fliegen lassen. Das Heer kommt nur, wenn es Todesfälle und Rettungsnotwendigkeiten gibt. Privatwirtschaftliche Hubschrauberunternehmen gibt es in Nepal, dort bieten sie bestimmte Erleichterungen: Wenn ich auf 7.000 Meter schwach werde, werde ich geholt und ausgeflogen.

STANDARD: Aber Sie kritisieren auch die auf dem K2 verwendeten Hilfsmittel.

Messner: Sie müssen sich den ganzen Zauber vorstellen: Der Berg wird in Seile und Ketten gelegt, eine Piste bis zum Gipfel gebaut. Offensichtlich hat dieser Pakistani gerade Sicherungsseile korrigiert, dabei ist er abgestürzt, im Seil hängengeblieben, und dann hat man eben, statt zu retten, die Flucht nach oben angetreten. Es zwingt jeden emotional, da zu helfen. Ein Bergsteiger ist auch ein normaler Mensch: Wenn ich sehe, dass jemand neben mir im Straßenverkehr, im Sport oder am Berg beim Sterben ist, zwingt mich meine innere Stimme, zu helfen. Da war früher eine große Solidarität. Obwohl die Kluft zwischen Sonntagsbergsteigern und den wirklich großen Bergsteigern größer war als heute, hat man Solidarität gezeigt. Jeder Bergsteiger ist stehen geblieben und hat dem anderen geholfen, wenn er es brauchte. Als die neuseeländische Gruppe mit dem Sohn von Edmund Hillary am Ama Dablam Hilfe brauchte, hätten wir nicht unten sitzen und zusehen können, wie die da oben sterben. Und da waren 2.000 Meter Wand zwischen uns, die lagen nicht neben dem Weg.

STANDARD: Wie kommt es dann, dass niemand Hassan gerettet hat?

Messner: Weil mit dieser Banalisierung der Berge die Haltung den Bergen und anderen Menschen gegenüber die gleiche wird wie in der Stadt. In einem Bergdorf in Österreich oder in meiner Heimat Südtirol, da hilft man sich ganz selbstverständlich gegenseitig. Man grüßt sich. In der Millionenstadt grüßt man nicht. Wenn dann jemand durch die Stadt torkelt, weil er Hunger hat, dann will man das nicht gesehen haben. Das ist eine andere Welt. Unsere Zivilisation läuft immer mehr einer Nichtsolidarität entgegen. Allein durch Corona ist der Egoismus in Europa gestiegen, das ist zu spüren. Der Egoismus des Einzelnen, auch der national unterstrichene Egoismus, wächst.

STANDARD: Und das orten Sie auch am Berg?

Messner: Bei diesen Bergtouren sieht man das eklatant. Es ist auf dem Everest passiert, dass Leute an Sterbenden vorbeigegangen sind, und es ist offensichtlich auf dem K2 wieder passiert – weil sehr viele Leute auf dem Berg waren. Wenn nur drei Leute auf dem Berg sind, helfen sie sich gegenseitig. Das Bergsteigen ist keine Massenveranstaltung, und wenn es eine Massenveranstaltung wird, dann nimmt es die gleichen Formen an, die die Masse an den Tag legt, wenn sie in großen Räumen ganz normal zusammenlebt. Der Selbsterhaltungstrieb ist der stärkste Trieb, den wir haben, aber wir haben auch Empathie. Die Menschheit kann nicht überleben, wenn nur Singuläre überleben. Sie kann nur überleben, wenn wir Empathie zueinander finden. Und diese Empathie ist in den letzten Jahren beim einzelnen Menschen weniger geworden. Und diese großen Berge sind zu banalen Naturerscheinungen geworden. Wenn ich da raufgebracht werde, wenn eine Piste da ist, wenn jemand hinter mir mehr als genug Sauerstoff herträgt, wenn ich den Berg dadurch zu einem Sechstausender mache, dann ist er eben ein banaler Sechstausender und nicht mehr der Everest oder der K2. Und dann – ich hoffe nicht, dass ich es täte – verhalte ich mich so, dass ich diesen anderen eben nicht sehen will. Weil ich will ja zum Gipfel, und wenn ich ihn sehen würde, müsste ich auf den Gipfel verzichten. Retten heißt nach unten bringen – und nicht mehr weiter nach oben.

STANDARD: Für Sie geht es da also auch um die generellen Dynamiken?

Messner: Ich schreibe seit 30 Jahren gegen diese Form des Alpinismus an – ohne Erfolg. Bergsteigen ist kein Konsumgut! Das hat mit Eigenverantwortung, mit Verantwortung für die anderen zu tun. Diese Solidarität war da, Bergrettungsdienste sind der Beweis dafür. Die geht aber durch die Banalisierung verloren. Wenn das Erreichen des Gipfels, für den ich vielleicht schon 500.000 Euro ausgegeben habe, plötzlich wichtiger ist als das Helfen, dann kommt meine Psyche durcheinander. Das Prestige, eine Bergtour am K2 einsacken zu können, ist den Menschen offenbar mehr wert als das Retten eines anderen. Wenn dieser Mensch da oben gestorben ist und zehn, 20 Leute vorbeigegangen sind, ist das ein absolutes Armutszeugnis für den Alpinismus von heute.

STANDARD: Aber auch ein Sittenbild, wenn ich Sie richtig verstehe.

Messner: Es werden in Zukunft große Katastrophen passieren, wenn das so weitergeht, wenn wirklich einmal eine Lawine auf eine Menschenkolonne von 30, 40 Mann abgeht. Die gehen ja in riesigen Gänsemarschkolonnen da rauf.

STANDARD: Vielen Menschen ist die Gefahr gar nicht bewusst.

Messner: Nein, die Leute glauben: Das hat die Sekretärin gemacht, und ich bin der CEO, also muss ich das auch machen. Die treiben sich gegenseitig an. Alpingeschichtlich interessiert das niemanden, ich nenne das Pistenalpinismus. Aber ich kritisiere den nicht, das ist auch eine Möglichkeit, sich auf dem Berg zu tummeln. Es ist nicht nach meinem Geschmack, und ich frage mich, was die Leute eigentlich davon haben, da auf den Berg hinaufgebracht zu werden. Das ist ähnlich, wie mit einer Rakete ins All geschossen zu werden, wie das Elon Musk anbietet. Ich würde das nie annehmen, das ist nur langweilig. Ich tue ja nichts, werde einfach rauf katapultiert, und wenn's gut geht, bringen sie mich wieder runter. Oder diese Leute, die in diesem Boot zur Titanic runtergefahren und alle umgekommen sind. Auch das werde ich nie mitmachen. Eine große Auseinandersetzung mit der großen Natur, mit dem Meer oder den Bergen, findet nur statt, wenn ich in Eigenregie, in Eigenverantwortung für mich und meine Kameraden in der Wildnis unterwegs bin. Was soll ich denn sonst lernen, was soll ich denn sonst davon haben? Mir selber erzählen, dass mich da irgendwelche Einheimischen unter hohen Gefahren und unter großer Anstrengung hinaufgebracht haben? Dass ich alle Tricks verwendet habe, um einen dieser Berge bestiegen zu haben? Das ist völlig unnütz. Und wenn ich nicht eine Sinnhaftigkeit in mein Tun lege, dann gibt mir das nichts.

STANDARD: Was müsste sich ändern, um wieder in die andere Richtung zu kommen?

Messner: Es muss sich vor allem die Einstellung zum Berg ändern. Ich habe mit 75 mein Start-up Messner Mountain Heritage gegründet und werde um die Welt reisen, solange meine Gesundheit und meine Klarheit im Kopf reichen, und in Städten, wo es viele Bergsteiger gibt, öffentliche Diskussionen führen, einen Schlüsselvortrag halten, vielleicht ein paar Filme zeigen, um klarzumachen, was eigentlich Alpinismus ist – der traditionelle Alpinismus. Der ist nicht nur das Tun, sondern auch das Narrativ dazu. Und wenn ich das Narrativ kenne, dann weiß ich, dass über fast 200 Jahre eine große Solidarität der Helfer im Falle von Todesgefahr da war. 1957 zum Beispiel die Rettung aus der Eiger-Nordwand, das war eine irre Angelegenheit. Die besten Kletterer Europas sind da hingegangen, Lionel Terray, ein Star, hat sich 400 Meter weit in die Wand runtergelassen – alles lebensgefährlich. Diese Solidarität gehört wesentlich zum traditionellen Alpinismus dazu.

STANDARD: Und die fehlt nun.

Messner: Auf einer Piste mit allen möglichen Hilfen auf den Gipfel gehen ist Tourismus. Aber wir leben in den Alpen auch vom Tourismus, deswegen ist das Kritisieren schwierig. Der Tourismus hat seine Berechtigung, aber nach meinem Dafürhalten nicht beim schwierigen Klettern und nicht in großer Höhe. Da sollten die Kletterer in Eigenregie unterwegs sein. Ohne Eigenverantwortung gibt es keine starken Ängste, Zweifel, Emotionen, Glücksgefühle. Ich habe zu diesem Thema auch ein Buch geschrieben: "Zwischen Durchkommen und Umkommen". Die Kunst des Bergsteigens ist es, nicht dabei umzukommen.

STANDARD: Fasst das auch die jetzige Causa zusammen, dass viele Menschen nur den Gipfel sehen und der Kunst des Nichtumkommens nicht einen gewissen Wert zuschreiben?

Messner: Die sehen nur den Gipfel und erwarten, dass sie von den Helfern hinaufgebracht werden, weil sie denen viel Geld geben. Das ist in Nepal eine Haupteinnahmequelle. Die zahlen an den Staat mindestens 11.000 Dollar nur für den Versuch und zum Teil mehr als eine Million. Es gibt so viele reiche Leute, denen langweilig ist, und dann sagen sie: Warum soll ich mein Geld auf den Malediven verpulvern, ich gehe mal auf den Everest. Das ist heute eh ein Allerweltsberg. Diese Klienten glauben, all diese Rekorde – der höchste Berg der Welt, der schwierigste Berg – geben ihnen einen besonderen Wert. In Wirklichkeit muss man die Einheimischen loben, dieses Mal ist einer von ihnen sogar umgekommen. Es ist eine Negativwerbung für den Alpinismus. (Martin Schauhuber, 10.8.2023)