Felix Gall
Ein erschöpfter Felix Gall nach dem Sieg bei der 17. Etappe der Tour de France.
EPA/ANNE-CHRISTINE POUJOULAT / P

Bernhard Eisel hat den Etappensieg von Felix Gall bei der Tour de France für Eurosport kommentiert. Der 42-Jährige ist TV-Experte, zudem sportlicher Leiter beim Team Bora-hansgrohe, für das er bei der Vuelta im Spätsommer wieder im Einsatz ist. Eisel war einst Vorbild von Gall, über die Jahre wurde er dessen Mentor.

STANDARD: Wie ist der Etappensieg von Felix Gall einzuordnen?

Eisel: Immens hoch. Schauen Sie nur auf die Eckpunkte: Er fährt die Königsetappe der Tour de France, liegt in den Top Ten der Gesamtwertung und fährt für ein französisches Team, AG2R. Dann holt er das Souvenir Henri Desgrange für den schwersten und längsten Berg dieser Tour. Er hält Jonas Vingegaard auf dem steilsten Stück in Schach. Ich möchte nicht sagen, dass Kontrahenten wie Simon Yates, David Gaudu, Pello Bilbao ausgesehen haben wie Statisten, aber so gut wie. Felix holte einen absolut verdienten, einen unglaublichen Etappensieg.

STANDARD: Wie ist ihm das gelungen?

Eisel: Es war eine Kombination aus allem. Losgefahren ist er mit dem Plan, sich im Klassement zu verbessern. Für sein Team ist es wichtig, in den Top Ten vertreten zu sein. AG2R hatte bis jetzt eine missratene Tour, Felix hat sie für das Team gerettet. Das gelang mithilfe der Teamkollegen, Ben O'Connor und Nans Peters haben für ihn in den Anstiegen alles gegeben. Und plötzlich fährt er einfach los. Nicht aus Verzweiflung, sondern weil er gemerkt hat, er ist im Steilhang der Stärkste. Das ist mit Abstand das Beste, was dir in einer Karriere passieren kann. Ich hätte das gerne einmal gehabt in meinem Leben.

STANDARD: Im Ziel kamen Gall die Tränen. Fühlten Sie mit ihm?

Eisel: Der ganze Druck ist abgefallen, die Genugtuung kam hervor. Seit seinem WM-Titel als Junior (2015, Anm.) hatte er eine schwere Zeit. Immer wieder wurde er untergebuttert, keines der Teams, für die er unterwegs war, hat an ihn geglaubt. Sie setzten immer auf vermeintlich stärkere Fahrer. Somit haben sie ihm seine Karriere extrem erschwert. Das ist am Mittwoch alles aus ihm rausgekommen.

STANDARD: Welche Rolle hat er in seinem Team?

Eisel: Eigentlich war er für den Giro d'Italia gesetzt. Nach der starken Tour of the Alps hieß es plötzlich: Du fährst die Tour. Das war für ihn eine gewisse Ehrung, bei der Tour starten zu dürfen. Im Verlauf der Tour übernahm er die Kapitänsrolle von Ben O'Connor, allerdings wurden wenige Erwartungen in ihn gesetzt. Man hat ihm gesagt, gib dein Bestes, wir schauen, was rauskommt. Hätte er einen schlechten Tag erwischt, hätten sie ihm keine Schuld gegeben. Trotzdem war damit Druck da, das reicht aus, dass alles rauskommt im Moment, bei dem man beim Interview steht und sagen darf: Ich habe die Tour-de-France-Etappe gewonnen.

Felix Gall jubelt.
Felix Gall kurz vor der Ziellinie.
REUTERS/STEPHANE MAHE

STANDARD: Was sind Galls Stärken?

Eisel: Er zählt zu den besten Kletterern der Welt – speziell im hohen Prozentbereich. Mit der Höhe umgehen können viele, aber in diesen wirklich steilen Anstiegen diese Wattzahlen zu produzieren, das können nur wenige. Felix gelingt das.

STANDARD: Wo muss er besser werden?

Eisel: In Abfahrten die richtigen Bremspunkte zu finden. Und in der Aerodynamik, beim Zeitfahren. Ich denke, das kommt von allein. Bis jetzt hat er das Zeitfahren nicht wirklich gebraucht, es spielte keine Rolle, ob er 31. oder 34. wird.

STANDARD: Was ist für Gall noch drin bei dieser Tour?

Eisel: Hoffentlich viel Champagner in Paris. Davor soll er am Samstag in Markstein ankommen und fertig. Besser wird es nicht. Natürlich könnte er auf das Bergtrikot gehen, das wird aber ein harter Kampf. Aus Sicht des Teams würde ich ihm sagen: Riskiere niemals den Top-Ten-Platz im Klassement für das Bergtrikot. Falls er die Beine dafür hat, wird er auf beides losgehen.

STANDARD: Wohin kann es langfristig gehen?

Eisel: Er kann das wiederholen, was er jetzt geschafft hat. Das derzeitige Maximum ist der Kampf um Platz drei bei der Tour, die ersten beiden Plätze sind vergeben. Aber es gibt noch so viele andere geniale Rennen.

STANDARD: Was hat bei der Tour zum Erfolg geführt?

Eisel: Es sind Kleinigkeiten. Er hat einen neuen Trainer, aber ich glaube nicht, dass er im Training viel anders macht als früher. Die Zusammenarbeit trägt Früchte, sie wissen mit der Erfahrung besser, ob er ruhigere Tage braucht oder intensiver trainieren kann. Das ist ein Lernprozess. Auf dem Niveau, wo sich Felix nun bewegt, muss man die kleinen Schrauben justieren.

STANDARD: Gall sagte, er profitiert davon, in der Vorbereitung gesund geblieben zu sein. Wird im Radsport so hart trainiert, dass man immer wieder krank wird?

Eisel: Durchaus. Du gehst konstant ans Limit. Und wenn die Wertschätzung nicht gegeben ist, geht es ins Mentale. Das ist die schwerwiegendere Komponente.

Bernhard Eisel
Ex-Radprofi Bernhard Eisel ist Eurosport-Experte und Teil des Global Cycling Network (GCN).
Credit GCN

STANDARD: Welches Standing hat Österreich im Radsport?

Eisel: Ein unglaublich gutes. Wir haben nicht nur bei Bora-hansgrohe einige Österreicher. An der Seite von Tadej Pogacar fährt Felix Großschartner, bei Movistar hilft Gregor Mühlberger Enrico Mas. Marco Haller hatte viele Angebote, entschied sich für Bora. So geht es mit vielen Namen weiter. Das sind alles Fahrer, auf die man sich verlassen kann. Wir sind überall bekannt dafür, sehr loyal zu sein. Das wird bei allen Teams großgeschrieben und geschätzt. Mit dem Sieg von Felix weiß jeder, was möglich ist, und das Ziel sollte sein, die Nummer eins zu sein. Wir können Radrennen gewinnen.

STANDARD: Was halten Sie von Leader Jonas Vingegaard?

Eisel: Es war ziemlich klar, dass er der Stärkste sein wird. Der ganze Aufbau im Training ging in die Richtung. Alle hofften auf Tadej, dass er das doch noch umdrehen kann, dass es spannend bleibt. Ich hoffe zumindest, dass Tadej die Tour fertig fahren kann. Er schaut echt angeschlagen aus.

STANDARD: Wie ist es zu erklären, dass zwei Fahrer sich derart absetzen können?

Eisel: Das hat es immer gegeben. Wir haben immer gesagt: Wo es bei den einen aufhört, fangen die anderen erst an. Sie sind von Natur aus gesegnet. Man muss aber auch sagen, ihre Teams haben sich die stärksten Mannschaften zusammengekauft. Und sie sind unglaubliche Radfahrer, egal auf welchem Terrain. Sie haben keine Schwächen, können bergauf, bergab und im Zeitfahren brillieren, selbst im Sprint sind sie stark. Das macht den großen Unterschied aus. (Lukas Zahrer, 20.7.2023)