Thomas Mayer aus Brüssel

In Brüssel ging zum Zeitpunkt der Beratungen auch eine Solidaritätsbekundung mit der Ukraine über die Bühne.
In Brüssel ging zum Zeitpunkt der Beratungen auch eine Solidaritätsbekundung mit der Ukraine über die Bühne.
AP/Sylvain Plazy

Seit Kriegsbeginn haben die EU und ihre 27 Mitgliedsländer insgesamt 72 Milliarden Euro an Hilfen für die Ukraine geleistet. Darin eingerechnet sind nicht nur die Gelder für Finanzhilfen zur Stabilisierung des Landes, etwa durch Rentenzahlungen, und die Lieferung von Waffen und Munition. Auch die Aufwendungen für fast zehn Millionen Menschen, die seit dem Angriff durch russische Truppen im Februar 2022 in den Westen geflüchtet sind, sind darin enthalten.

Diese Zahl hat die EU-Kommission zu Beginn des EU-Gipfels am Donnerstag in Brüssel offiziell bestätigt. Geht es nach dem Willen einer breiten Mehrheit der Staats- und Regierungschefs, dann werden diese Hilfen praktisch unbegrenzt fortgesetzt. Es soll für das Land zudem eine Art von militärischer Sicherheitsgarantie geben.

Budget für Waffen aus Friedensfazilität

Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz sagte schon zu Beginn der Beratungen zur neuen Strategie zum Kampf für Unabhängigkeit und Stabilität der Ukraine: "Wir müssen uns darauf einstellen, dass es lange, lange dauern kann." Die im EU-Budget vorgesehene "Friedensfazilität", die für die Lieferung von Waffen und Munition verwendet wird, soll daher ausgebaut und zu einem permanenten Werkzeug werden, um das Land militärisch zu versorgen.

Nach den Worten des EU-Außenbeauftragten Josep Borrell gehe es dabei um "Sicherheitszusagen" im Krieg und danach auch in Friedenszeiten. Er sprach von einem "Verteidigungsfonds" für die Ukraine: "Training und Modernisierung der Armee müssen fortgesetzt werden." Borrell sieht den russischen Präsidenten Wladimir Putin durch den Aufstand der Wagner-Gruppe geschwächt, "aber ein schwacher Putin ist eine noch größere Gefahr".

Idee Frankreichs

Den Vorschlag für eine solche Sicherheitsverpflichtung der EU – ein "Commitment", wie es im Entwurf der Schlusserklärungen hieß, was weniger ist als eine "Garantie" – hatte Frankreich eingebracht. Über die genaue Ausformung müsse zwar "noch geredet werden", betonte der niederländische Premierminister Mark Rutte, nicht zuletzt, weil einige Mitgliedsländer wie Österreich Probleme bei der Lieferung letaler, aus dem EU-Budget gelieferter Waffen haben.

Es wurde erwartet, dass die Regierungschefs darüber bis in die Nachtstunden verhandeln würden. Aber es schien, dass die große Mehrheit der Staaten, die zugleich auch Nato-Mitglieder sind, jedenfalls eine Sicherheitszusage an die Ukraine abgeben wollen. Nicht zuletzt die Ereignisse rund um die Meuterei der Wagner-Truppen in Russland vor einer Woche, "der Riss" in der russischen Führung um Putin, wie Borrell sagte, brachten die EU-Spitzen dazu, ihr Engagement für das umkämpfte Nachbarland zu erhöhen.

Sicherheitszusagen für Drittstaaten

Bei den vier verbliebenen bündnisfreien beziehungsweise neutralen EU-Mitgliedern Österreich, Malta, Zypern und Irland löste der Vorstoß zu einer "Sicherheitszusage" für ein Drittland Irritationen aus. Bundeskanzler Karl Nehammer erteilte den Forderungen nach "Sicherheitsgarantien für die Ukraine", wie er es nannte, eine klare Absage: "Für uns als neutrale Staaten ist es klar, dass es die so nicht geben kann." Er verlangte eine "abgemilderte Formulierung der Sicherheitszusagen", für Österreich sei "wichtig, dass unsere Rolle als Neutrale auch explizit erwähnt wird."

Tatsächlich war in den Entwürfen durch Ratspräsident Charles Michel auch bereits eine Formulierung vorgesehen, dass bei solchen Sicherheitsverpflichtungen "die Sicherheits- und Verteidigungspolitik einiger Mitgliedsstaaten voll respektiert wird". Das würde Österreich erlauben, im Bedarfsfall selbst zu entscheiden, ob man sich an Aktionen der Union beteiligt oder enthält.

In diesem Sinn ist das im EU-Vertrag ähnlich bei der Beistandsverpflichtung der 27 EU-Staaten untereinander geregelt. Nehammer sieht darin einen Ausdruck der Vielfalt in der EU, die Rolle der Neutralen sei eine andere als die der Nato-Staaten in der EU.

Nato-Option nach Krieg

Der deutsche Kanzler erklärte zur Lage mit Russland: "Unser Ziel ist kein Regierungswechsel in Russland, sondern eine unabhängige Ukraine." Er verwies auf die Wichtigkeit des Austauschs mit Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg beim Gipfel. Dieser hielt fest: "Wir sind uns auch einig, dass die Ukraine ein Mitglied des Militärbündnisses wird" – nach dem Krieg. Im Moment sei es aber wichtig, dass die Ukraine "ein unabhängiger, souveräner Staat in Europa bleibt".

Der Nato-Generalsekretär sieht zudem nach der Revolte der Söldnertruppe Wagner "Risse" im russischen System. Es sei aber noch nicht klar, was genau mit den Wagner-Söldnern passiere, sagte Stoltenberg. Nehammer traf am Rande des Gipfels auch mit dem NATO-Chef zusammen, um über die NATO-geführte Schutztruppe KFOR im Kosovo zu reden.

Selenskyj will Beitrittsverhandlungen in nächsten sechs Monaten

Der ukrainische Präsident Wolodymir Selenskyj forderte die EU-Staats- und Regierungschefs beim EU-Gipfel auf, in den nächsten sechs Monaten Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine aufzunehmen. Laut seiner vom Präsidialamt veröffentlichten Rede vom Donnerstag sagte Selenskyj, dass das kommende Halbjahr wichtig für Europa werde. Spaniens Ministerpräsident Pedro Sanchez, dessen Land ab Juli die EU-Ratspräsidentschaft innehat, werde zum Auftakt die Ukraine besuchen.

Der ukrainische Präsident war per Video in Brüssel zugeschaltet. "Dies ist eine historische Zeit, um Verhandlungen über die Mitgliedschaft der Ukraine in der EU zu starten", sagte Selenskyj. "Wir sind bereit, Beitrittsverhandlungen zu beginnen. Unser Fortschritt bei der Umsetzung der Empfehlungen der Europäischen Kommission muss festgeschrieben werden." Die Ukraine sei "entschlossen, so bald wie möglich vollständig auf die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen vorbereitet zu sein, und das werden wir auch tun".

Seit 2022 hat die Ukraine offiziellen EU-Beitrittskandidatenstatus. Über die Aufnahme müssen die 27 EU-Staaten einstimmig entscheiden. Als richtungsweisend gilt ein Fortschrittsbericht, den die EU-Kommission am 11. Oktober vorlegen will. Eine Entscheidung könnte dann beim EU-Gipfel im Dezember fallen. (Thomas Mayer aus Brüssel, APA, 29.6.2023)