Hansjörg Friedrich Müller aus Berlin

Das Zivilverfahren im bayerischen Traunstein könnte wegweisend sein.
Reuters / Lukas Barth

Vor dem Landgericht im oberbayerischen Traunstein hat am Dienstag ein Prozess begonnen, der für den Umgang deutscher Gerichte mit Missbrauchsfällen im kirchlichen Umfeld wegweisend sein könnte. Kläger ist der 39-jährige Andreas Perr, der angibt, Mitte der 1990er-Jahre von einem Pfarrer in Garching an der Alz sexuell missbraucht worden zu sein.

In einem Zivilverfahren fordert Perr 300.000 Euro Schmerzensgeld und Schadenersatz von dem mutmaßlichen Täter Peter H. und dem Erzbistum München und Freising. Der Missbrauch habe seinen Mandanten aus der Bahn geworfen, sagt Perrs Anwalt; schlechte Leistungen in der Schule sowie Alkohol- und Drogenprobleme seien die Folge gewesen.

Besonders pikant: Unter den Beklagten befindet sich auch Joseph Ratzinger, der 2022 verstorbene Papst Benedikt XVI., von dessen Erben Perr weitere 50.000 Euro fordert. Ratzinger war 1980 Bischof in München, als dort entschieden wurde, dass der Priester H. nach sexuellen Übergriffen aus dem Bistum Essen nach Bayern versetzt wird. Dort unterzog sich H. zwar einer Therapie, wurde kurz darauf aber wieder in der Seelsorge eingesetzt. Seit 1987 war er Pfarrer in Garching; ein Jahr vorher hatte ihn das Amtsgericht Ebersberg wegen Missbrauchs von minderjährigen Buben verurteilt.

Wechselnde Erinnerung

Vorerst wird nur gegen das Bistum und gegen H. verhandelt; ein Verfahren gegen Ratzinger wird, wenn überhaupt, gesondert stattfinden. Der Grund dafür ist, dass die potenziellen Erben des verstorbenen Papstes noch nicht entschieden haben, ob sie das Erbe antreten. Unter Umständen könnte der Schadenersatz, den sie zahlen müssten, ihre Einnahmen übersteigen. Laut mehreren deutschen Medienberichten gibt es sechs Erbberechtigte; sollte keiner oder keine von ihnen die Erbschaft antreten, gäbe es auch kein Verfahren gegen Ratzinger.

Benedikt XVI. hatte zunächst bestritten, sich mit H.s Fall beschäftigt zu haben, ein Jahr vor seinem Tod jedoch eingeräumt, doch an der Ordinariatssitzung vom Jänner 1980 teilgenommen zu haben. Dort sei aber nicht über einen seelsorgerlichen Einsatz H.s, sondern lediglich über dessen Unterbringung während der Therapie entschieden worden.

Wie der Bayerische Rundfunk berichtet, soll Ratzinger 1986 als Präfekt der Glaubenskongregation einen Brief unterschrieben haben, mit dem H. erlaubt wurde, in der Messe Traubensaft statt Wein zu verwenden. Den Missbrauch soll der Priester nämlich unter Alkoholeinfluss begangen haben. Damit habe Ratzinger dazu beigetragen, dass H. weiterhin als Seelsorger eingesetzt werden konnte, argumentiert Perrs Anwalt. 2010 wurde Peter H. vom Dienst suspendiert, weil er sich nicht an Auflagen gehalten haben soll, die ihm die Kirche auferlegt hatte. Heute soll er wieder im westdeutschen Ruhrgebiet, also weit weg von Bayern leben.

Sprunghafter Anstieg

Der spätere Papst habe vom Vorleben des Priesters gewusst, sagte die Vorsitzende Richterin Elisabeth Nitzinger-Spann am Dienstag. Dass dem Kläger Schadenersatz zustehe, sei klar, nur die Höhe sei noch offen. Sollte Perr tatsächlich eine sechsstellige Summe erhalten, könnte dies für die Kirche weitreichende Folgen haben: Erst vergangene Woche hatte das Landgericht im nordrhein-westfälischen Köln das dortige Erzbistum zur Zahlung von 300.000 Euro an einen Betroffenen verurteilt.

Bisher betrugen die Zahlungen, die deutsche Bistümer in ähnlichen Fällen leisteten, im Durchschnitt 22.000 Euro. Würden die Traunsteiner Richter ähnlich wie ihre Kölner Kollegen entscheiden, könnten weitere Gerichte dieser Linie folgen. Die Summen an Wiedergutmachungsgeldern, die deutsche Diözesen künftig an Missbrauchsopfer zahlen müssten, würden dann sprunghaft ansteigen. (Hansjörg Friedrich Müller aus Berlin, 20.6.2023)