Innenminister Gerhard Karner (ÖVP)
Das Innenministerium von Gerhard Karner (ÖVP) hat eine Studie zum "Lagebild Extremismus und Migration" in Auftrag gegeben, die am Dienstag veröffentlicht wurde.
APA/EVA MANHART

Am Dienstag wurde eine neue Studie veröffentlicht, die für Österreich einen Überblick über verschiedene Formen von Extremismus in migrantischen Communitys aus der Türkei, dem arabischen Raum, Tschetschenien und dem Westbalkan bieten soll. Durchgeführt wurde die Studie, die von Innenministerium und Kanzleramt finanziert wurde, von einem vierköpfigen Forscherteam unter der Leitung des deutschen Extremismusexperten Peter Neumann. Die Erhebungen fanden bereits 2021 statt.

Kein Abbild der Gruppen

Für die Studie wurden 48 Interviews mit Kennerinnen und Kennern der entsprechenden Szenen abgehalten – darunter etwa Forscherinnen, Journalisten, Behördenmitarbeiterinnen und Experten aus den Communitys selbst. Es handelt sich bei den Ergebnissen, wie in der Studie mehrfach betont wird, nicht um repräsentative Abbilder der jeweiligen Gruppen, zumal auch keine quantitativen Methoden verwendet wurden. Die größten Leidtragenden von Extremismus fänden sich auch meist in den Communitys selbst.

Es gehe vielmehr darum, die wesentlichen Mechanismen und Erscheinungsformen von Extremismus beispielhaft herauszuarbeiten und anhand dessen das Potenzial an Gefahren und Problemen abzuschätzen. Aus der Auswahl der vier Gruppen ergebe sich zudem der besondere Fokus, den die Studie auf den islamischen Extremismus lege.

Von gewaltsam bis passiv

Der Begriff "Extremismus" wird in der Studie weit gefasst und in drei Kategorien gegliedert. Neben dem "gewaltsamen Extremismus", der seine Ziele mit physischer Gewalt rechtswidrig durchsetzen will, gebe es einen "aktivistischen Extremismus", der in der Regel auf eine gesetzeskonforme Mobilisierung innerhalb der bestehenden Gesellschaftsstruktur und ihrer Organisationen setzt. Der "passive Extremismus" agiere ebenfalls gesetzeskonform, suche aber die Abkopplung vom Rest der Gesellschaft – etwa durch separate Bildungsstrukturen zur Förderung der eigenen Ideologie. Was alle Formen von Extremismus vereine, sei die Ablehnung einer pluralistischen Gesellschaft mit ihren gleichberechtigt existierenden Ideen und Interessen. 

Zu den Ergebnissen im Einzelnen: In der türkischen Community seien keine jihadistischen Strömungen erkennbar, wie zu lesen ist. Es sei "aktuell nicht davon auszugehen, dass sich Gewalttaten gegen den Staat, staatliche Institutionen oder die Mehrheitsbevölkerung richten". Allerdings gebe es ein breites Feld an islamistischen Gruppen – vor allem Millî Görüş – und ultranationalistischen Bewegungen – vor allem die Grauen Wölfe –, die sich in den Formen von aktivistischem und passivem Extremismus etabliert hätten. Die Studienautoren fürchten, dass es dadurch innerhalb der türkischstämmigen Gruppe zu Eskalationen kommen könnte, etwa mit Kurden oder Erdoğan-kritischen Aktivistinnen.

In der Migrations-Community aus dem Nordkaukasus, die hauptsächlich Tschetschenen umfasst, ortet die Studie ein "hohes Radikalisierungspotenzial" in Verbindung mit gewaltsamem Extremismus. Das liege an Abschottungstendenzen und einer teils "gewaltaffinen Ehrkultur". Ein Symptom seien auch die relativ vielen tschetschenischstämmigen Personen gewesen, die ausreisten, um sich als Jihad-Kämpfer dem sogenannten Islamischen Staat anzuschließen. Durch die Stigmatisierung der Gruppe habe sich zudem eine Art "Teufelskreis" entwickelt. Doch in den vergangenen Jahren kristallisierten sich einige hoffnungsfrohe Zeichen heraus, heißt es in der Studie. Es gebe nun Initiativen innerhalb der Community, durch Bildungs- und Sozialprojekte extremistischen Impulsen entgegenzuwirken.

Zur Personengruppe mit Wurzeln im Westbalkan (Bosnien-Herzegowina, Nordmazedonien, Albanien, Kosovo) zeichnet die Studie ein recht entspanntes Bild. Die Community zeige eine "bislang hohe Resilienz gegenüber Extremismus". Der traditionell eher liberale bosnische Islam als auch der albanische Nationalismus wirkten gewissermaßen als "Schutzschilde" gegen den Erfolg religiöser Extremisten. Extremistische Akteure würden innerhalb der Community vielfach nicht geduldet. Allerdings müsse man auch hier wachsam sein, da die Ausbreitung islamistischer Kräfte auf dem Balkan auch nach Österreich hineinwirken könnte. 

In der Bevölkerung mit arabischem Hintergrund macht die Studie vor allem aktivistische, aber in geringerem Ausmaß auch gewaltsame und passive Formen von Extremismus aus. Besonders relevant sei hier das starke Netzwerk der Muslimbruderschaft. Die große Zahl von Kriegen traumatisierter und "sozioökonomisch relativ schlecht integrierter Männer" berge ein erhebliches Radikalisierungspotenzial, was auch vom starken Einfluss ausländischer Konflikte befeuert werde. Der Schlüssel zur Eindämmung des Potenzials liegt für die Studienautoren auf der Hand: erfolgreiche Integration. (Theo Anders, 20.6.2023)