Türkei, Zentralbank, Inflation, Hafize Gaye Erkan
Fachleute erwarten, dass der Wechsel an der Spitze auch eine Trendwende in der türkischen Geldpolitik bedeutet.
APA/AFP/ADEM ALTAN

Die Türkei hat einen neuen Zentralbankchef, und erstmals in der türkischen Geschichte ist es eine Frau. Hafize Gaye Erkan löst Şahap Kavcıoğlu ab, den Letzten in einem immer kürzeren Wechsel von Zentralbankchefs, die am Ende nichts anderes mehr zu tun hatten, als Präsident Recep Tayyip Erdoğans Entscheidungen umzusetzen. Das wird wohl nun vorbei sein.

Mit Erkan kommt eine amerikanische Investmentbankerin an die Spitze der Zentralbank, die, auch wenn sie einen türkischen Pass hat, ihre Ausbildung und ihre anschließende Karriere ausschließlich in den USA gemacht hat. Sie hat bei verschiedenen US-Banken gearbeitet, darunter bei Goldman Sachs und zuletzt als Co-Chefin der insolventen First Republic Bank, die von JP Morgan gerettet werden musste.

Erkan ist damit das Gegenteil der bisher von Erdoğan berufenen Zentralbankchefs aus seiner eigenen Fraktion, die nur deshalb ernannt wurden, weil sie gegenüber ihrem Chef besonders loyal waren. Sie kommt zu einem Zeitpunkt, zu dem die Devisenreserven der Zentralbank schon im Minus rangieren und sich die türkische Lira auf einem historischen Tiefpunkt gegenüber Euro und Dollar befindet. "Sie ist nicht nur die jüngste Chefin, die die Zentralbank je hatte, sondern vermutlich auch die erste, die persönlich über mehr Devisenreserven verfügen dürfte als die Bank", merkte ein Satiremagazin am Freitag spöttisch an.

Neue Wirtschaftspolitik

Politische Beobachter vermuten, dass Erkan auf Wunsch des neuen Finanz- und Schatzministers Mehmet Şimşek bestellt wurde, ebenfalls ein ehemaliger Investmentbanker, der in den USA und Großbritannien bei verschiedenen Banken tätig war. Şimşek, der schon einmal von 2009 bis 2018 unter Erdoğan Finanzminister war und gehen musste, als Erdoğan seine Vision einer unabhängigen Wirtschaft umsetzen wollte, war von Erdoğan vor einer Woche als Finanzminister zurückgeholt worden.

Mit dem Team Şimşek/Erkan dürfte nun nach Erdoğans jahrelanger sogenannter unorthodoxer Finanzpolitik, die zu einer riesigen Währungs- und Wirtschaftskrise geführt hatte, wieder eine eher angloamerikanische Wirtschafts- und Finanzpolitik am Bosporus Einzug halten. Vermutlich wird die neue Zentralbankchefin nun im Einklang mit der amerikanischen Fed und der europäischen EZB die Zinsen wieder anheben um die enorme Inflation, die unabhängige Ökonomen im Gegensatz zu den regierungsamtlichen Angaben immer noch bei 120 und nicht bei 40 Prozent ansetzen, langsam wieder zu drücken.

Neuaufstellung nach Wiederwahl

Şimşek hat als Ziel eine einstellige Inflation in den kommenden Jahren ausgegeben. Das dürfte auch die Voraussetzung dafür sein, dass amerikanische und europäische Banken wieder Vertrauen in die Türkei schöpfen und bereit wären, sich in dem Land zu engagieren. Denn die Türkei braucht dringend neue Finanzspritzen. Zuletzt wurde der Kollaps nur noch dadurch verhindert, dass Russland Öl und Gas zu Schleuderpreisen an Erdoğan abgab und die Scheichs aus Katar wiederholt Milliarden-Dollar-Pakete an die türkische Zentralbank überwiesen, damit diese überhaupt noch handlungsfähig blieb.

Damit rettete sich Erdoğan bis über die Wahlen, doch nach seiner Wiederwahl muss die türkische Finanz- und Wirtschaftspolitik neu aufgestellt werden. Erkan und Şimşek wurden vermutlich auch deshalb bestellt, weil sie die entsprechenden Kontakte zum westlichen Finanzmarkt haben. (Jürgen Gottschlich, 11.6.2023)