Im Community-Artikel analysiert der Architekt und Stadtforscher Vladimir Vukovic die Entwicklung der Architektur in Jugoslawien unter der Tito-Regierung.

In der Zeit zwischen 1945 und 1991 entwickelte sich in Jugoslawien eine Baukultur, die weder die Vorbilder aus dem Westen noch die aus dem Osten nachahmte, sondern einen eigenen Weg suchte. Lange Zeit blieb diese Architektur einer breiten Öffentlichkeit unbekannt. Erst in den letzten Jahren verstärkte sich das Interesse des internationalen Fachpublikums für dieses Phänomen. Leider ist heutzutage der Umgang mit den Spuren dieser Baukultur vor Ort mehr als unzureichend. Auch die heutige Bauproduktion in den Nachfolgestaaten Jugoslawiens lässt viel zu wünschen übrig.

Ein Wendepunkt in der jugoslawischen Nachkriegsgeschichte beeinflusste wesentlich die weitere Entwicklung des Landes – auch im Bereich von Kunst, Kultur und Architektur. Im Jahr 1948 widersetzte sich der neu gewählte jugoslawische Präsident Tito dem Versuch Stalins, Jugoslawien, wie auch die anderen osteuropäischen Staaten, unter den politischen Einfluss der Sowjetunion zu bringen. Dies führte zur Isolation Jugoslawiens von den restlichen sozialistischen Staaten und zu einer wirtschaftlichen Krise innerhalb des Landes. Die Konfrontation dauerte bis zum Tod Stalins im Jahr 1953. Zu einer Normalisierung der Beziehungen zwischen den beiden Staaten kam es erst nach dem Besuch Nikita Chruschtschows in Belgrad 1955 und Titos Gegenbesuch in Moskau 1956.

Distanzierung von Sowjetunion

Warum wagte es der jugoslawische Präsident, sich dem großen sowjetischen Diktator zu widersetzen? Bereits als Kommunist vor dem Zweiten Weltkrieg verkehrte Tito in den Kreisen von politisch linksorientierten Intellektuellen. Viele davon stammten aus guten Elternhäusern und genossen ihre Ausbildung im Ausland, wie Paris oder Zürich. Dort kamen sie früh in Kontakt mit den damals aktuellen avantgardistischen Kunstströmungen, wie mit der Dada-Bewegung in Zürich oder mit dem Surrealismus von André Breton in Paris. Diese Ideen brachten sie in ihre Heimat mit, wobei der Surrealismus im Jugoslawien der Zwischenkriegszeit besonders stark ausgeprägt war. Einige der Akteure dieser Strömung wie Marko Ristić, Koča Popović, Oskar Davičo, oder Dušan Matić waren die engsten Vertrauten Titos und belegten nach dem Krieg wichtige staatliche Posten. Es wird vermutet, dass Titos Abkehr vom sowjetischen Modell und seine spätere liberale Kulturpolitik nicht zuletzt ihrem Einfluss zuzuschreiben waren.

Jedenfalls brachte die Distanzierung von der Sowjetunion einen Prozess der Liberalisierung der ganzen jugoslawischen Gesellschaft in Gang. Als Wendepunkt nimmt man den Kongress des Schriftstellerverbandes Jugoslawiens in Ljubljana vom Oktober 1952, den viele als Ende des Sozialrealismus und des Dogmatismus in der einheimischen Kunstszene bezeichneten. Bekannt wurde die Kongressrede des kroatischen Schriftstellers Miroslav Krleža, der den Weg der jugoslawischen Literatur und Kunst weder im bürgerlich-westlichen noch im sowjetisch-östlichen Vorbild sah. Er plädierte für eine eigene Kunstrichtung, die durch subjektive Reflexion der Situation im neuen sozialistischen Jugoslawien geprägt werden sollte.

Noch ein außenpolitischer Großerfolg gelang der Tito-Regierung. Im Jahr 1961 wurde die Bewegung Blockfreier Staaten gegründet. Tito war einer der Initiatoren der Bewegung und die Gründungskonferenz fand in Belgrad statt. Die Bewegung zählte weltweit über 100 Mitgliedsstaaten und sicherte Jugoslawien gute wirtschaftliche Beziehungen und internationales Ansehen.

Die Stadt im "gesellschaftlichen Eigentum"

Der Staat war in Jugoslawien der Auftraggeber und Investor zugleich. Diese Tatsache begünstigte die Realisierung von Großprojekten. So entstanden zahlreiche repräsentative Bauten und Siedlungen, von denen viele auch international bekannt wurden. Als Vorzeigeprojekt wurde Belgrad in den Nachkriegsjahren um einen vollkommen neuen Stadtteil am linken Ufer des Sava-Flusses erweitert. Ursprünglich sollte Neu-Belgrad zum neuen Verwaltungszentrum Jugoslawiens, oder sogar zur Hauptstadt einer Balkan-Föderation, werden. Allerdings war das Thema einer neuen großen Hauptstadt aufgrund der sich ab 1948 entwickelnden Krise nicht mehr aktuell. So wurde Neu-Belgrad in den darauffolgenden Jahren hauptsächlich mit Wohnbauten befüllt.

Im Jahr 1986 gab es einen internationalen Wettbewerb zur Verbesserung der urbanen Struktur Neu-Belgrads, an dem unter anderen Paolo Portoghesi, Alexis Josić und Henri Lefebvre teilnahmen. In seinem Buch "Das Recht auf Stadt" (1968) lobte Lefebvre Neu-Belgrad als Musterbeispiel einer Stadt im "gesellschaftlichen Eigentum". Doch wurde er später von der Umsetzung dieser Idee enttäuscht. Trotz reger internationaler Beteiligung wurden die Ergebnisse dieses Wettbewerbs nie umgesetzt. Nach dem Zerfall Jugoslawiens in den 1990er-Jahren wurde die breite modernistische Matrix Neu-Belgrads planlos befüllt – mit Einkaufszentren, Kirchen, Wohnbauten. Heute leben in Neu-Belgrad über 300.000 Menschen.

Bild einer offenen Gesellschaft

Außergewöhnliche Persönlichkeiten aus Kunst und Kultur sowie viele Intellektuelle wurden in Jugoslawien nicht nur akzeptiert, sondern auch gefördert. Als ob sich die Tito-Regierung bemüht hätte, dem Westen zu zeigen, dass es sich hier um eine offene Gesellschaft handelte, die in Sachen von Demokratie und Kultur an die westlichen Standards herankomme. Viele Architekten und Architektinnen Jugoslawiens erreichten mit ihren Werken internationales Ansehen wie zum Beispiel: Vjenceslav Richter mit dem jugoslawischen Pavillon für die interationale Ausstellung in Brüssel (1958); Nikola Dobrović mit dem Gebäude des Generalstabs in Belgrad (1965); Mihajlo Mitrović mit dem Genex-Hochhaus in Neu-Belgrad (1977 bis 1980); Edvard Ravnikar, ein Schüler von Jože Plečnik, mit zahlreichen Bauten in Slowenien sowie mit seinem Beitrag für den Masterplan für das nach dem Erdbeben zerstörte mazedonische Hauptstadt Skopje (zusammen mit Kenzo Tange, 1963).

Das Gebäude des Generalstabs in Belgrad, Nikola Dobrović, 1955 bis 1965. Beschädigt durch die Nato-Bombardierung 1999, steht es bis heute als Ruine im Zentrum Belgrads.
Foto: Vladimir Vukovic

Unübliche Gedenkstätten

Die Architektur der Gedenkstätten spielte eine wichtige Rolle im Jugoslawien der Nachkriegszeit. Diese Bauten wurden hauptsächlich dem Befreiungskampf und den Opfern des Zweiten Weltkriegs gewidmet. Abseits jeglicher Pathetik zeichneten sich viele dieser Bauten durch einen hohen Grad an Abstraktion und Gestaltungsfreiheit aus, die in den anderen sozialistisch geführten Ländern jener Zeit unüblich waren. Sehr sehenswert sind unter anderem die Arbeiten von: Miodrag Živković, Sutjeska-Tjentište (1971); Dušan Džamonja, Kozara-Mrakovica (1972); Vojin Bakić und Berislav Šerbetić, Petrova gora (1981).

Einer der bekanntesten Architekten von Denkmalbauten war Bogdan Bogdanović (1922–2010), der ebenfalls als Buchautor und Universitätsprofessor eine überregionale Bekanntheit erlangte. Seine Bauten wurden international ausgezeichnet, seine Bücher in mehrere Sprachen übersetzt. Bogdanovićs Nachlass befindet sich seit 2005 im Architekturzentrum Wien und ist seitdem einer der meistgefragten Teile des Archivs dieser Institution.

Gedenkstätte Jasenovac in Kroatien, Bogdan Bogdanović, 1959 bis 1966. Ausgezeichnet mit The Carlo Scarpa Prize for Gardens, 2007.
Foto: Vladimir Vukovic

Zerfall Jugoslawiens

Nach dem Tod Titos (1980) veränderte sich das gesellschaftliche Klima in Jugoslawien. Eine politische und wirtschaftliche Krise zeichnete sich bereits ab. Nach dem Zerfall Jugoslawiens und in den darauffolgenden Kriegen in den 1990er-Jahren verschlechterte sich die Situation noch zusätzlich. Die Investitionen wurden weniger, die Bau- und Planungskultur verloren ihren Stellenwert in der Gesellschaft.

Der heutige Umgang mit der historischen Bausubstanz aus der näheren Vergangenheit ist leider in den Nachfolgestaaten Jugoslawiens oft nicht zufriedenstellend. Viele dieser Bauten brechen zusammen, stehen als Ruinen oder werden unsachgemäß umgebaut. Auf der anderen Seite werden fragwürdige Großprojekte in den besten Lagen umgesetzt, gegen die Empfehlungen der Fachleute und gegen den Willen der Bevölkerung. Eines dieser Projekte läuft in Belgrad seit 2014 unter dem Namen Belgrade Waterfront. Es handelt sich um ein Stadtentwicklungsprojekt am rechten Ufer des Sava-Flusses, mit einem Investitionsvolumen von über drei Milliarden Euro und Investoren aus den Vereinigten Arabischen Emiraten. Ein beträchtlicher Teil der Öffentlichkeit wehrte sich gegen dieses Projekt und verwies auf seine städtebaulichen, architektonischen und sozialen Mängel. Trotzdem setzte die serbische Regierung ihr Vorzeigeprojekt durch. Leider mangelte es an Alternativen und Finanzierungsmöglichkeiten für eine solidarische und gerechte Stadtplanung an dieser Stelle.

Die Zeit des sozialistischen Jugoslawien hat viele Spuren einer sehenswerten Baukultur hinterlassen. Es bleibt zu hoffen, dass die heutige Architektur und Stadtplanung in den Nachfolgestaaten Jugoslawiens die Fehlentwicklungen aus der Gegenwart überwinden und an die gute Tradition aus der Vergangenheit anknüpfen können. (Vladimir Vukovic, 8.5.2023)