Verführerischer Flirt mit dem Tod. Moritz (Ludwig Wendelin Weißenberger, links) offenbart sich Melchior (Curdin Caviezel) als Wiedergänger.

Foto: Rita Newman

In dem Coming-of-Age-Klassiker Frühlings Erwachen (1891) prangert Frank Wedekind die sexuellen Moralvorstellungen des Wilhelminismus an. In einer Neuinszenierung am Theater der Jugend in Wien erweitert Regisseur Thomas Birkmeir das Thema Sexualität um die Konflikte der Generation Z. Er fokussiert auf den durch Eltern und Medien potenzierten Selbstoptimierungszwang, Drogenkonsum, auf Identitätsfragen sowie Ausländerfeindlichkeit.

Ominöse Mauerschau

Frau Bergmann betritt die gekippte Bühne, um den Tod von Tochter Wendla (Victoria Hauer) zu verkünden. Im Hintergrund werden Schatten auf die graue Wand eines symbolischen Friedhofs projiziert, deren Muster mit jeder Szene optisch variiert. Wendla nach den Vandalen zu benennen geht auf den Wunsch der Mutter zurück, ihre Tochter zu einer "Revoluzzerin" zu formen. Doch die 14-Jährige, die vom Klassenkameraden Melchior Gabor (Curdin Caviezel) schwanger wird, stirbt an einer Geburtskomplikation. Der retrospektive Blick der Mutter in die Ferne vor dem imaginären Grab der Tochter erweckt Wendla als Erinnerung zum Leben, repräsentiert durch eine noch nicht verwelkte Rose (Bühne: Andreas Lungenschmid). Dann wechselt die Rahmen- zur eigentlichen Binnenhandlung und Wendla tritt samt des restlichen Figurenensembles auf.

Polarlicht

Moritz Stiefel (Ludwig Wendelin Weißenberger) zerbricht an den hohen Erwartungen durch Eltern und Schule. Ebenso an der Taktlosigkeit seiner Mitschüler, wenn es um Liebesgossip, Islamophobie oder (Cyber-)Mobbing geht. Auf den pragmatischen Melchior, der ihn zum Drogenkonsum anstiftet, ist er aufgrund dessen guter Noten angewiesen. Der Bühnenboden, der nach jeder Szene die Farbe wechselt, korrespondiert mit Moritz’ Wunsch, sich als Reaktion auf die Gefühlskälte in einem antarktischen Eisblock bei Polarlicht einzuschließen.

Alter Ego, Double, Chaplin

Otto/Ilse ist tagsüber toxischer Prolo, nachts verwandelt er sich in eine divenhafte Blondine. Während Moritz seinen Suizid filmt, wird sein Gesicht live auf die zerfranste Bühnenwand projiziert. Dieses verdoppelt sich als Anzeichen einer Persönlichkeitsspaltung. Später erscheint Moritz Melchior als Wiedergänger auf dem Friedhof. Auf einem Hubpodium von der Unterbühne emporsteigend versucht er ihn von seinem Grab aus mit dem Tod zu verführen. Wären da nicht mehrere Charlie Chaplins, die abseits der Bühne aufkreuzen. Sie überzeugen Melchior, auf der Seite des Lebens zu bleiben. Übrigens: Chaplins Leichnam wurde 1978 gestohlen; zudem nahm der Komiker Gerüchten zufolge an seinem eigenen Doppelgängerwettbewerb teil (dritter Platz).

Mit den Gorillaz lebt sich's besser

Birkmeir bleibt dem Original treu, schauspielerisch ist die Darbietung überzeugend, es gelingt eine Tragikomödie. Die bei Szenenwechseln eingespielten Lieder (vor allem von den Gorillaz) sind nicht forciert. Auch die negativ besetzte Amerikanisierung Europas streift Birkmeir, wenn er die Jungs American Football spielen und die Mädchen als Cheerleader tanzen lässt. Zugunsten der Konflikte der Figuren verzichtet die Inszenierung auf ein üppiges Bühnenbild, nützt dieses aber raffiniert. (Christina Janousek, 28.3.2023)