Es dauerte eine Woche, bis die Auswirkungen der Blockade auch in den Geschäften sichtbar wurden. Zuerst verschwanden Pasta und Reis aus den Regalen – dann Fleisch, Gemüse und Früchte, erzählt David Gabrielyan. Der 24-jährige Marketingspezialist wohnt in Bergkarabach und schickt Sprachnachrichten auf Whatsapp.

Ein Demonstrant, der die armenische Nationalflagge trägt, vor russischen Soldaten bei Stepanakert.
Foto: Davit GHAHRAMANYAN / AFP

Die Internetverbindung werde von Tag zu Tag schlechter – und auch die Stromausfälle dauern immer länger an, erzählt er. "Wir haben Silvester in diesem Jahr nicht gefeiert", so Gabrielyan. "Wenn man hier wohnt, bedeutet es nichts mehr, wenn man sich ein frohes neues Jahr wünscht."

Wochenlange Blockade

Der Konflikt um die selbsternannte Republik Arzach, wie Bergkarabach von Armeniern genannt wird, ist nicht neu. Doch seit Mitte Dezember blockieren angebliche aserbaidschanische Umweltschützer den Latschin-Korridor, der Bergkarabach mit Armenien und der Außenwelt verbindet. In einer Rede Ende Jänner warnte der armenische Ministerpräsident Nikol Pashinyan vor ethnischer Säuberung und erklärte, dass die aserbaidschanische Regierung nur ein Ziel verfolge: "den Willen der Armenier von Bergkarabach zu brechen, in ihrer Heimat zu leben (…), in der Erwartung, dass die Armenier von Bergkarabach ihre Häuser massenhaft verlassen."

Weder Lebensmittel noch Medikamente werden seit der Blockade durch die Straßensperren und Stacheldrahtzäune durchgelassen. Dabei sind die 120.000 Bewohner Bergkarabachs wirtschaftlich von Armenien und seinen Produkten abhängig. Die Regierung der selbsternannten Republik verteilt mittlerweile Lebensmittelmarken an Familien: Coupons für Reis, Buchweizen, Zucker. Die knappen Vorräte würden bloß noch einige Wochen ausreichen, so Gabrielyan. Indes wächst die Angst vor einer humanitären Katastrophe.

Humanitäre Lebensader

Der Latschin-Korridor, der von aserbaidschanischer Seite blockiert wird, ist seit Kriegsende im Jahr 2020 die einzige Route nach Bergkarabach. Die Zugangsstraße gilt als humanitäre Lebensader der Enklave, die sich innerhalb der international anerkannten Grenzen Aserbaidschans befindet, aber von der ethnischen armenischen Mehrheit gehalten wird – seit dem Krieg vor knapp drei Jahren unter der Anwesenheit von russischen "Friedenstruppen". Der Unmut über die 2.000 russischen Soldaten, die mehrere Checkpoints entlang des Korridors kontrollieren, wächst. Russland sollte eigentlich für die Sicherheit der Bewohner sorgen, lässt jedoch die Blockade zu.

"Putin, halte dein Wort!", schrieben manche auf die selbstgebastelten Plakate, mit denen Zehntausende im Dezember in Stepanakert, der Hauptstadt Bergkarabachs, demonstrierten. "Am Anfang dachte ich noch, dass die Blockade bald wieder aufgehoben wird. Schließlich sind wir das alles schon gewohnt. Aserbaidschan behandelt uns wie Spielzeug. Sie spielen mit unserer Psyche", erzählt David Gabrielyan. "Ich bin immer mehr davon überzeugt, dass der härteste Teil bald vorüber ist: der Winter. Im Frühling können wir Gemüse und Früchte anbauen und werden damit überleben können."

Postsowjetischer Konflikt

Zum ersten Mal brach der Krieg um Bergkarabach nach dem Zerfall der Sowjetunion aus, der sowohl Armenien als auch Aserbaidschan angehörten. Die Armenier, die das Gebiet seit Jahrhunderten mehrheitlich bewohnen, riefen daraufhin ihre eigene Republik aus, die international von keinem Uno-Mitglied anerkannt wurde – auch nicht von Armenien selbst. In den Jahren 2016 und 2020 flammte der Krieg zwischen den muslimischen Aserbaidschanern und christlichen Armeniern erneut auf.

Mehr als 6.000 Menschen starben zuletzt auf beiden Seiten, und Armenien verlor im letzten Krieg um Bergkarabach außerdem die Kontrolle über große Gebiete der Enklave. Doch selbst nach Ausruf der Waffenruhe im Jahr 2020 hörten die Auseinandersetzungen zwischen den beiden Nachbarländern nicht auf: Erst im September vergangenen Jahres griff Aserbaidschan erneut an – dieses Mal Städte wie Dschermuk, die sich auf armenischem Staatsgebiet befinden.

Was will Alijew?

Für den aserbaidschanischen Politologen Rusif Huseynov, Direktor des in Baku ansässigen Thinktanks Topchubashov, könnte die aktuelle Blockade darauf hinweisen, dass sein Land versuche, das Gebiet bald vollends unter seine Kontrolle zu bringen. "Die Bevölkerung in Aserbaidschan erkennt den Ausgang des Krieges im Jahr 2020 als Erfolg an, aber denkt auch, dass das Ergebnis unvollständig ist. Dass ein Teil unseres Landes nicht unserer Rechtsprechung unterliegt", so Huseynov. Und der Hass auf die Armenier wird von der aserbaidschanischen Propaganda täglich weiter geschürt.

Die Forderungen Ilham Alijews, Machthaber des autoritären Regimes, sind altbekannt, so Huseynov: die Anwesenheit aserbaidschanischer Vertreter in Bergkarabach sowie die Einrichtung von Röntgenscannern am Grenzübergang in Latschin, um den Transfer von bewaffneten Gruppen und Waffen von Armenien nach Karabach zu verhindern.

Aserbaidschan fordert auch die Ausweisung von Ruben Vardanyan – er ist ein umstrittener russischer Milliardär armenischer Herkunft, der seit November Staatsminister der selbsternannten "Republik Arzach" (Bergkarabach) ist.

Wohl auch wegen Vardanyan machte Mychajlo Podoljak, Berater des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, in einem Interview mit dem öffentlichen moldauischen Rundfunk Russland für die Blockade mitverantwortlich. Der Konflikt werde dafür genutzt, "die Aufmerksamkeit vom Krieg in der Ukraine abzulenken und sie auf andere Konfliktherde zu lenken", so Podoljak. Er ließ dabei aber außer Acht, dass Aserbaidschan die Blockade selbst in die Wege geleitet hat, und zwar durch eine von der Regierung unterstützte Gruppe von Demonstranten.

Angst vor weiterer Eskalation wächst

Während Aserbaidschan versucht, einen geopolitischen Balanceakt zu vollziehen und das Verhältnis mit Moskau nicht zu verschlechtern, bemühte sich die Ukraine ihrerseits, die Beziehungen mit Aserbaidschan in den Bereichen Wirtschaft und Energiesicherheit in den vergangenen Jahren zu stärken.

Seit der russischen Invasion hat sich auch die EU an das Land angenähert, hauptsächlich um Gasimporte zu sichern. Gerade deshalb müsse die EU mehr dazu beitragen, um die Spannungen zwischen Aserbaidschan und Armenien abzubauen, erklärt Nathalie Loiseau, französische Europa-Abgeordnete und Vorsitzende des Unterausschusses für Sicherheit und Verteidigung. Doch auch sie sieht Russland in der Verantwortung. "Die russischen 'Friedenstruppen' schützen die Bevölkerung nicht, und Russland hält den Konflikt am Leben, anstatt ihn zu lösen", so Loiseau. "Wir sollten uns nicht täuschen lassen. Es gibt keine eingefrorenen Konflikte. Es gibt nur Konflikte, die wir vergessen, bis wir keine andere Wahl haben, als uns mit ihnen zu befassen."

Wann wird die Blockade aufgehoben?

So viel ist klar: Aserbaidschan könnte die Blockade jederzeit aufheben. Stattdessen werden die Bewohner von Bergkarabach weiterhin in Unsicherheit gelassen. "Mit der Familie spreche ich nur noch über essenzielle Dinge: Lebensmittel, Strom, Gas", erzählt Ashot Gabrielyan, der jüngere Bruder von David, der einige Stunden vor Beginn der Blockade des Latschin-Korridors nach Armenien fuhr und seither nicht mehr nach Hause zurückkann. Der 22-jährige Lehrer organisiert Proteste in der armenischen Hauptstadt Jerewan, um auch die Menschen dort wachzurütteln. Seine Angst vor einer weiteren Eskalation ist groß – sie war nie weg.

"Ich erinnere mich an meine Gefühle während des Krieges und an die Albträume, die ich hatte. Es ist schrecklich – körperlich und mental. Wenn man ein Flugzeug hört, eine Sirene. Man hat ständig Angst, auf die Straße zu gehen und jemanden zu verlieren." In Bergkarabach unterrichtet er Englisch und Soziologie, seit der Blockade online. "Es ist mir ein Anliegen, die jungen Menschen dort über ihre Rechte aufzuklären", so Gabrielyan. "Ich möchte, dass sie sich auf die Bildung konzentrieren – aber wir können nicht ignorieren, dass wir gerade nicht den Luxus haben, über diese Dinge zu sprechen." (Daniela Prugger und Astrig Agopian, 3.2.2023)