Verstehen Sie mich bitte nicht falsch: Natürlich sind Sie und alle anderen, die bei Minusgraden laufen, "tough cookies", "harte Hunde". Und obwohl das auch für Frauen gilt, bitte ich um Verzeihung, dass ich den deutschen Begriff nicht gendere – die weibliche Formulierung bietet zu viele Möglichkeiten einer obszönen Lesart. Darum: tough cookie.

In jedem Fall: Es ist nicht "nix", bei minus sieben Grad einen Marathon oder einen Halben zu laufen. Das gilt natürlich auch fürs Einfach-nur-so-Laufen, wenn es saukalt und wääääh ist. Egal wie lang, egal wie weit, egal wie schnell.

Foto: Tom Rottenberg

Ich bin kein besonders toughes Cookie. Darum war ich mir auch bis Sonntagfrüh alles andere als sicher, ob ich beim Langenzersdorfer Weihnachtsmarathon mitlaufen würde. Den Ganzen, wusste ich, würde ich nicht machen: Für 44 Runden à 959 Meter rund um die Seeschlacht (der Badeteich samt Umland heißt tatsächlich so) bin ich nicht geduldig und demütig genug. Plan B? 22 ehrgeizlos-eintönige Runden über die Halbmarathondistanz. Ich trabe meinen gemütlichen Sonntagszweistünder aber lieber in abwechslungsreicherem Umfeld.

Foto: Tom Rottenberg

Doch wenn alle Lieblingsmenschen und Wahlverwandten beschließen, sich beim mittlerweile traditionellen Vorweihnachts-Teich-Rundumadum die Eis-Kante zu geben, gewinnt der soziale Gruppendruck. Ganz abgesehen davon, dass es bei Kälte feiner ist, nicht mutterseelenalleine unterwegs zu sein.

"Gruppe" ist eine Antwort auf die zumindest am Anfang ständig aufpoppende Frage, wieso man nicht tut, was bei diesen Temperaturen naheliegend und vernünftig wäre: daheim bei Weihnachtskeksen und Tee auf dem Sofa zu knotzen.

Denn am Anfang, bis die Betriebstemperatur erreicht ist, ist es auch in der besten "Winterpanier" frisch. Und zu wissen, dass das normal ist, ändert nix daran, dass sich das unleiwand anfühlt.

Foto: Tom Rottenberg

Freilich: Sobald man unterwegs ist, sobald man warm und im "Flow" ist, sobald das Rudel rennt, sich Pulks bilden und das Wettkampfadrenalin reinkickt, ist all das kein Thema mehr.

Und wenn man alle paar Minuten Freunde, Verwandte oder Bekannte trifft – weil man sie überholt oder überrundet oder (weit häufiger) von ihnen auf dem kurzen Rundkurs mehrfach "eingesammelt" wird –, bekommt sogar die Redundanz des Kreisens eine eigene Qualität.

Foto: Tom Rottenberg

Auch weil man alle paar Minuten am Bankerl vorbeikommt. Auf dem steht nicht nur der Geburtstagskuchen eines Freundes, hier stapelt sich auch – peu à peu – Zeug, das man nach sieben, zwölf oder 16 Kilometern nimmer braucht: Kalt ist es ja nur am Anfang – und im Ziel.

Aber dann ist man im Nu in trockenen, warmen Tüchern. Fährt heim, springt unter die heiße Dusche – und verbringt den Rest des Tages bei Weihnachtskeksen und Tee auf dem Sofa. Stolz – schließlich hat man der Welt gerade bewiesen, was für ein "tough cookie" man doch ist: Wer sonst ist bei diesem Wetter stundenlang draußen?

Foto: Tom Rottenberg

Genau genommen beginnt die heutige Geschichte genau hier. Weil gerade Läuferinnen und Läufer die Antwort auf die oben gestellte Frage sicher kennen. Nein, nicht wenn sie 44-mal rund um die Seeschlacht laufen. Aber sehr wohl, wenn sie sich auf derlei vorbereiten.

Meist rennt man da ja durch weniger dicht verbaute Zonen und Reviere. Und muss schon recht bewusst wegschauen, um jene nicht zu sehen, die mehr als nur einen Tick länger an der "frischen Luft" sind als unsereiner. Ohne das Exit-Szenario Dusche, Sofa, Tee in der warmen Wohnung.

Foto: Tom Rottenberg

Was man sich im Sommer mit viel Mühe als "deviant romantisch-freiheitssuchend" schönreden kann, ist bei Eisregen, frostigem Wind und Schnee einfach nur schlimm. Unabhängig davon, warum jemand auf der Straße lebt. Ob er oder sie nicht in ein Heim oder eine Notunterkunft flüchten will oder es – egal warum – nicht kann, spielt keine Rolle: Bei Minusgraden draußen zu leben ist weder lustig noch heroisch. Sondern tendenziell gesundheits- oder sogar lebensbedrohlich.

Ein tagsüber nicht getrockneter Schlafsack kann ausreichen.

(Dieses Bild entstand Mitte November, das nächste vorige Woche an derselben Stelle.)

Foto: Tom Rottenberg

Darum kommt hier heute eine ganz direkte, ganz plumpe Bitte:

Schauen Sie nicht weg – sondern hin. Und speichern sich diese Nummer im Handy: 01 480 45 53 – die Nummer des Kältetelefons der (Wiener) Caritas.

Denn die Grün- und Erholungsräume, in denen Sie, ich, wir gerne laufen, sind in der Regel auch jene Rückzugsräume, in denen Obdachlose gerne unsichtbar werden: abseits der Massenwege – aber eben doch so, dass die Stadt und ihre Infrastruktur halbwegs erreichbar sind.

Zu wissen, wo diese "Quartiere" sind, kann helfen. Eventuell sogar Leben retten.

Foto: Tom Rottenberg

Die Frage lautet weniger "Wo wird gewohnt?", sondern eher "Wo nicht?". Denn als Unterschlupf kann vieles herhalten. Die Lobau, der Wienerwald, die Insel. Baustellen, Baumaterialdepots oder Kinderspielplätze im Winterschlaf. Urbane Brachen und die Sträucher im Zwickel zwischen Bahngleisen und Schnellstraßen. Die Ufer der Neuen, der Alten und der Ohne-Vorsilbe-Donau. Brückenpfeiler und das Tragwerk unter Stadtautobahnen ... oder Verschläge und Buschwerk in Bombentrichtern im unteren Prater: Wer einmal gelernt hat, diese Unterkünfte zu erkennen, sieht sie rasch überall. Im Winter, ohne schützendes Blattwerk, leichter als im Sommer.

Foto: Tom Rottenberg

Man muss nicht suchen. Nicht wegschauen reicht. Auf meiner "Hausrunde" kenne ich mindestens fünf Wohnspots. Im Winter schaue ich jedes Mal kurz vorbei.

Nicht auf ein Plauscherl – meistens ist eh niemand da. Und wenn doch, haben die Bewohnerinnen und Bewohner kaum Interesse an Smalltalk. Meist sagen sie, dass es ihnen eh gut geht und sie ihre Ruhe wollen. Die lasse ich ihnen.

Aber ich merke mir den Spot. Wenn er neu ist oder anders als sonst wirkt – etwa andere oder neue "Belegschaft" da ist –, rufe ich, wieder daheim, beim "Kältetelefon" an.

Foto: Tom Rottenberg

Genau das zu tun bitte ich Sie.

Denn ob der Spot der Caritas schon bekannt ist oder nicht (meistens ist er es), können Sie vorher nicht mit Sicherheit sagen.

Und auch wenn vor Ort gesagt wurde, dass Hilfe weder gebraucht noch gewünscht sei, heißt das nicht, dass genau die gleichen Personen den Schlafsack, die Suppe aus dem Caritas-Bus oder ein anderes Hilfsangebot nicht doch annehmen. Nicht unbedingt heute – aber eventuell doch irgendwann.

Sage nicht ich, sondern – auf Nachfrage – die Caritas: "Grundsätzlich gilt: bitte immer anrufen, auch wenn vermutet wird, dass ein Spot schon bekannt ist. Unsere Streetworker*innen schauen im Fall auch mehrmals bei einem Platz vorbei, da es sein kann, dass sich der Zustand einer Personen verändert/verschlechtert."

Foto: Caritas/Luiza Puiu

Kurz stehen bleiben, schauen, ob wer da ist, höflich (!) fragen – und dann in neuneinhalb von zehn Fällen weiterlaufen – ist aber auch aus einem ganz anderen Grund wichtig: Gerade bei im Winter im Freien campierenden Menschen, erst recht solchen, die relativ oft gesundheitliche "Issues" im Handgepäck haben, ist nie auszuschließen, dass sie akut Hilfe brauchen. Dann gilt: 144.

Aber um das rauszukriegen, ist eines unerlässlich: zehn Sekunden eines Trainingslaufs zu opfern.

Foto: Caritas/Luiza Puiu

Dass sich manche Menschen – speziell Frauen – gerade in entrisch-abgelegenen Gebieten und an Tagesrandzeiten nicht immer dabei wohlfühlen, außerhalb der Normen lebende Personen anzusprechen, ist verständlich.

Aber sich den Ort zu merken, eventuell – wegen der GPS-Koordinaten – ein Foto zu machen und dann beim Kältetelefon anzurufen erfordert wenig bis keinen Mut. Es ist zumutbar. Man schädigt, vernadert und gefährdet niemanden (das Zelt hier im Bild steht derzeit anderswo, so wie auch das am gleichen Morgen fotografierte auf Bild 10, Anm.). Nachsatz der Caritas-Pressestelle: "Wir benötigen bitte immer eine möglichst genaue Beschreibung des Platzes. Und bitte daran denken, dass die Umgebung nachts, wenn unsere Streetwork-Teams unterwegs sind, oftmals ganz anders aussieht."

Foto: Tom Rottenberg

Natürlich gilt all das nicht nur für Läuferinnen und Läufer.

Aber unsereiner (und -eine) kommt anderswo herum. Siehe oben.

Das betont auch Wiens (laufender) Caritas-Direktor Klaus Schwertner: "Als Läufer weiß ich: Man kommt häufig an Orten vorbei, die sonst wenig frequentiert sind. Orten, die für obdachlose Menschen oft wichtige Rückzugsorte sind. Wer auf solche Schlafplätze aufmerksam wird, kann und soll sich an das Kältetelefon der Caritas wenden. Für unsere Streetworker*innen sind das wichtige Hinweise. Wir verteilen winterfeste Schlafsäcke, Isomatten und winterfeste Kleidung. Oft gelingt es uns, Menschen in ein Notquartier zu bringen. Wir wollen verhindern, dass Menschen auf Wiens Straßen erfrieren. Und je mehr Menschen mithelfen, umso besser können wir dieses Ziel auch erreichen. "

Foto: Caritas

Dem ist wenig hinzuzufügen.

Doch, eines noch: Seien Sie stolz darauf, als "tough cookie" bei eisigem Wind und frostigem Wetter draußen unterwegs zu sein – aber geben Sie Ihrem, unserem "Dings"-Sein Sinn.

Und schauen Sie nicht weg. (Tom Rottenberg, 20.12.2022)


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Foto: Tom Rottenberg