Flüsternetzwerke müssen nicht immer anonym oder mündlich sein.

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Es ist ein vielsagender Blick, den mir eine Kollegin zuwirft, als ich mit einer Person zu sprechen beginne. Mit einer gezielten und schnellen Handbewegung gibt sie mir außerdem zu verstehen: "Bei dem musst du aufpassen." Ein Freund zieht mich auf der Weihnachtsfeier zur Seite und flüstert mir hinter vorgehaltener Hand zu: "Achte darauf, dass du mit der Person nicht alleine bist!" Auf öffentlichen Universitätstoiletten finde ich Hinweise in Wände geritzt und auf Social Media werden mir sogar offene Warnungen in den Feed gespült.

Als Sicherheitsnetz und Schutzfunktion gegen Sexismus und Diskriminierung sind solche Praktiken im Freundeskreis, an der Ausbildungsstätte und am Arbeitsplatz gang und gäbe. Dafür gibt es auch einen Namen. Flüsternetzwerke oder auch "whisper networks" sind informelle, private Vernetzungen unter vorwiegend – aber nicht ausschließlich – Frauen, um sich gegenseitig vor Personen zu warnen, die in der Vergangenheit diskriminierendes Verhalten gezeigt oder andere sexuell belästigt haben

Bekannte Beispiele sind schnell gefunden. Die Radiomoderatorin Angela Alexa etwa soll vor ihrem ersten Gespräch mit Medienunternehmer Wolfgang Fellner von dessen Assistentin gewarnt worden sein. Im STANDARD Podcast-Format Inside Austria erzählt sie, dass ihr geraten wurde, so viel wie möglich über ihren Freund zu reden und sich nicht auf Abendessen und Urlaube einzulassen. "Mit diesem Wissen bin ich mit Anfang 20 zu meinem ersten Gespräch mit meinem Chef gegangen."

Die Kehrseite der "whisper networks"

Flüsternetzwerke bieten also nicht nur Schutz. Wenn gut gemeinte Ratschläge das Verhalten schon im Vorfeld steuern, sodass man sich gar nicht erst beschwert, dann werden "whisper networks" laut Meike Lauggas, Beraterin bei #we_do!, der Anlauf- und Beratungsstelle für Filmschaffende, gefährlich. Denn auch der Tenor, sich nicht zu wehren, weil man sich dadurch die Zukunft verbauen könnte, kann das Ergebnis eines Flüsternetzwerks sein. Dazu nennt Claudia Frieben, Vorsitzende des Bundesfrauenrings und Bundesfrauenvorsitzende der Produktionsgewerkschaft (Pro-Ge) einen anderen konkreten Fall: In einer Niedriglohnbranche sei es ein offenes Geheimnis gewesen, dass die Schicht- oder Produktionsleiter für eine Lohnerhöhung sexuelle Gefälligkeiten einforderten. Eine Betriebsrätin habe erfolglos versucht, die Frauen aufzuklären, und sei schließlich zurückgetreten. "Ich gehe davon aus, dass das Netzwerk hier auch in die andere Richtung funktioniert. Die Frauen haben verstanden: Wenn du etwas haben willst, musst du bereit sein, etwas zu tun."

Als weitere Kehrseite nennt Lauggas die Frage der Verantwortung. Sollte man mündliche oder schriftliche Warnungen nicht annehmen, werde man mit Aussagen wie "Ich hab's dir ja gesagt" oder "Das weiß man doch" rechnen müssen. Dadurch sei die Verantwortung nicht mehr bei den übergriffigen Personen, sondern bei den Betroffenen.

Warnungen auf Tiktok

Dennoch haben sich den letzten Jahren vor allem in den sozialen Medien immer mehr Frauen auch offen gegen bestimmte Personen ausgesprochen. Erst vor kurzem gingen eine Reihe von Tiktok-Videos viral, in denen Userinnen darauf hinweisen, dass sich der verurteilte Straftäter Brock Turner im Raum Ohio aufhalte. Der 27-Jährige Ex-Student der Eliteuniversität Stanford wurde im Jahr 2016 zu sechs Monaten Haft verurteilt, nachdem er im Jahr zuvor eine bewusstlose junge Frau bei einer Campusparty vergewaltigt hatte. Seine milde Strafe führte zu einer Debatte über die Verhältnismäßigkeit von Sexualdelikten im US-Strafrecht.

Für Frieben ist das öffentliche Diffamieren konkreter Personen im Internet und auf Social Media der falsche Weg. Das Thema Sexuelle Belästigung sei dafür zu heikel und sensibel. Im Gegensatz zu Flüsternetzwerken am Arbeitsplatz oder im Freundeskreis können Anschuldigungen im Netz nämlich nur schwer geregelt und verifiziert werden. "Diese Vernetzung ist wichtig, aber was ist die Folge? Ist die Folge ein Verfahren? Ist die Folge eine Kündigung? Bei sowas kann man sich viel einhandeln."

Rechtliche Folgen

Lauggas sieht das ähnlich: "Wenn man etwa von einem berühmten Schauspieler belästigt wird und andere warnt, sich vor dieser Person in Acht zu nehmen, kann der schützende Effekt von Flüsternetzwerken bereits bedroht sein. Der Schauspieler könnte Anzeige erstatten. Das kann passieren." Für sie ist das Offenlegen von "whisper networks" daher ein Stück weit das Ergebnis eines fehlerhaften Rechtssystems. Hashtags wie #MeToo seien eine Reaktion darauf, dass die Rechte von Frauen oder Minderheitenangehörigen nicht ausreichend geschützt würden.

"In Österreich kann nach wie vor jeder Mensch irgendjemandem auf der Straße oder im Wirtshaus einen Kuss auf den Mund drücken und es gilt nicht als sexuelle Belästigung. Gewisse Kräfte verweigern seit Jahrzehnten eine Ausweitung dieser Antidiskriminierungsregelungen auf Bereiche außerhalb der Arbeitswelt." Für die #we_do!-Beraterin ist es daher auch nachvollziehbar, dass sich Betroffene auf eine andere Art organisieren. Die Handlungsweise bleibe aber zweischneidig.

Professionelle Anlaufstellen

Aus diesem Grund betont Lauggas professionelle Anlaufstellen als Ergänzung zu Flüsternetzwerken: "Vernetzung und Austausch ist nicht dasselbe wie professionelle Beratung in schwierigen Fragen." Für sie gibt es aber kein Entweder-oder, zumal die Anlaufstelle #we_do! vielfach über ein Flüsternetzwerk empfohlen wird.

Für Frieben sei es auch wichtig, dass Führungskräfte Informationen oder Handlungsanleitungen zum Thema sexuelle Belästigung einholen können und geschult werden. "Wenn etwas passiert, ist es wichtig, es aufzeigen. Man hat Möglichkeiten in Österreich und man sollte die auch nützen. Aber es hat schon einen Grund, warum die Behörden diese Fälle vertraulich behandeln. Es liegt im Ermessen der Betroffenen, ob die Inhalte veröffentlicht werden oder nicht."

"Shitty Media Man"-Liste

Wie weit rechtliche Konsequenzen bei einer Veröffentlichung, zumindest in den USA, führen können, zeigt das Beispiel der "Shitty Media Man"-Liste. Als die ersten Anschuldigungen rund um den amerikanischen Medienmogul Harvey Weinstein vor fünf Jahren laut wurden, veröffentlichte eine Gruppe von Frauen ein öffentliches Google Doc, das mehr als 100 Anschuldigungen gegen Weinstein umfasste. Unmittelbar danach sorgte die Liste "beschissener Medienmänner" für Aufruhr. Das Dokument war für zwölf Stunden online und konnte von jedem bearbeitet werden.

Anonyme Userinnen und User beschuldigten mehr als 70 Männer des Missbrauchs oder der sexuellen Belästigung, indem sie ihre Namen auf die Onlineliste setzten. Daraufhin klagte einer davon, der Schriftsteller Stephen Elliott, wegen Verleumdung. Im April 2022 wollte die Urheberin des Dokuments, Moira Donegan, die Klage mit dem Abschnitt 230 des Communications Decency Act blockieren. Dieser Gesetzesabschnitt ist als Providerprivileg bekannt und schützt Websites vor haftbaren Inhalten, die Userinnen und User auf den Plattformen posten. Der Richter lehnte den Versuch ab, die Sache könnte vor Gericht entschieden werden. Elliott verlangt 1,5 Millionen Dollar Schadenersatz. (Anna Wiesinger, 13.10.2022)