Im Gastkommentar stellt der Ökonom Michael Böheim Überlegungen zur Wien Energie und darüber hinaus an.

Die internationalen Energiemärkte sind im Krisenmodus, in der Bundeshauptstadt verdunkelte sich Ende August der Himmel über der Wien Energie.
Foto: APA/Helmut Fohringer

Die öffentliche Diskussion um die Liquiditätsprobleme der Wien Energie im Zusammenhang mit implodierten Warentermingeschäften (Futures) an der Leipziger Strombörse aufgrund abrupt fällig gewordener Nachschussverpflichtungen (Margin-Calls) hat den Begriff der "verrückt gewordenen Energiemärkte" im Bewusstsein der Menschen in Österreich nachhaltig verankert. Ein Blick hinter die Kulissen eines von komplexen Zusammenhängen getragenen, dicht regulierten und liberalisierten Marktes lohnt, um für die Zukunft die richtigen Lehren zu ziehen.

"Was für normale Marktbedingungen entworfen wurde, stößt in der aktuellen Krisensituation an seine Grenzen."

Die Preisbildung für Elektrizität folgt dem Merit-Order-Prinzip. Als Merit-Order wird die Einsatzreihenfolge von Kraftwerken bezeichnet. Beginnend mit den niedrigsten Grenzkosten werden so lange Kraftwerke mit höheren Grenzkosten zugeschaltet, bis die Nachfrage gedeckt ist. Der Strompreis wird durch das jeweils teuerste Kraftwerk bestimmt, das gerade noch benötigt wird, um die Nachfrage zu decken.

Unter Normalbedingungen führt der Merit-Order-Effekt zu einer Verdrängung von Kraftwerken mit hohen Grenzkosten durch Kraftwerke mit geringeren Grenzkosten. So geht etwa bei einer hohen Einspeisung von Wind- und Solarstrom die Restlast zurück, und das dann aktive günstigere Grenzkraftwerk bestimmt den Marktpreis. Was für normale Marktbedingungen entworfen wurde und unter diesen gut funktioniert, stößt in der aktuellen Krisensituation an seine Grenzen und wird zu einem zunehmend dysfunktionalen Mechanismus.

Dysfunktionaler Markt

Durch den starken Anstieg des Gaspreises in den letzten Monaten wurde die Stromerzeugung durch die als Grenzkraftwerke agierenden Gaskraftwerke empfindlich teurer. Die Kombination beider Effekte – Merit-Order plus schockartiger Gaspreisanstieg – ließ die Strompreise richtiggehend "explodieren". In einem Umfeld, das durch Marktversagen gekennzeichnet ist, werden marktbasierte Zuteilungsmechanismen dysfunktional. Ein Überdenken des Preisbildungsmechanismus für Elektrizität erscheint deshalb dringend geboten. Das scheint sich in der Zwischenzeit selbst bis zur Europäischen Kommission durchgesprochen zu haben. Am Freitag sollen beim Rat der Energieministerinnen und Energieminister diesbezüglich Nägel mit Köpfen gemacht werden. Fans von Goethes Faust sollten jedenfalls auf ihre Kosten kommen. Vielleicht gelingt diesmal endlich der dringend notwendige Umstieg von "Die Botschaft hör’ ich wohl" zu "Der Worte sind genug gewechselt".

Warentermingeschäfte (Futures) sind kein Problem an sich, sondern können eine höchst sinnvolle Risikoabsicherung darstellen und werden auch von (allen) Energieversorgern regelmäßig praktiziert. Konkrete Warentermingeschäfte können sich allerdings aufgrund der dahinterstehenden Ex-ante-Handelsstrategie, die sich nicht an erratische Marktentwicklungen anpasst, ex post als höchst riskant herausstellen.

Black Viennese Friday

Was genau das Risikomanagement der Wien Energie nicht oder doch gemacht hat, werden wohl erst detaillierte forensische Untersuchungen ans Tageslicht bringen. Mangels von Wien Energie vorgelegter Unterlagen mit von unabhängiger Stelle verifizierten "facts and figures" weiß zur Stunde niemand ganz genau, was da abgegangen ist, eventuell nicht einmal die Wien Energie selbst. Anhand der eklektisch und bruchstückhaft an die Öffentlichkeit durchgesickerten Informationen lässt sich aber eine interessante wie riskante Handelsstrategie mit Warenterminkontrakten rekonstruieren, die bei Schönwetter an den Energiemärkten funktioniert haben mag, sich aber in Krisenzeiten als autoaggressive "atomic (futures) bomb" herausgestellt hat. Diese Strategie sei der Einfachheit halber Merit-Order-Hedge genannt und hier als These, die durch empirische Evidenz falsifiziert werden kann, zur Diskussion gestellt.

Nach eigenen Angaben produziert die Wien Energie im Winter Fernwärme (mit Gas), wobei als Nebenprodukt Strom anfällt. Da dieser Strom nicht zur Gänze für die eigenen Kundinnen und Kunden gebraucht wird, wird dieser "auf Termin" über die Börse verkauft. Offensichtlich wurden für die Terminkontrakte (sehr) lange Laufzeiten gewählt, was eine kurzfristige Reaktion auf unerwartete externe Schocks erschwert. Wie schon im STANDARD vom 2. 9. kolportiert, sei das Problem am Black Viennese Friday (26. 8.) gewesen, "dass die Strompreise durch die Decke gegangen sind (plus 37 Prozent zum Vortrag), die Gaspreise aber nur um sieben Prozent gestiegen seien. Damit konnte das Guthaben, das man aus den Terminkontrakten mit Gas hatte, die zusätzlich geforderten Sicherheiten bei Strom bei weitem nicht ausgleichen. Mit einem Schlag waren (Anmerkung: als Saldo) 1,75 Milliarden Euro fällig".

Implodierte Strategie

Diese Fakten sind Evidenz dafür, dass die Wien Energie Short-Positionen (Verkäufe) mit Strom mit Long-Positionen (Käufe) mit Gas kombiniert hat. Das ist in der Tat ein intelligenter Hedge, falls (Konditionalsatz!) sich der oben skizzierte Zusammenhang zwischen Gas- und Strompreis über die Merit-Order jederzeit im konstanten Verhältnis am Markt realisiert, also Gewinne mit Verlusten ausgeglichen werden können. Am 26. 8. war das – "shit happens" – offensichtlich nicht der Fall (Strom: plus 37 Prozent; Gas: plus sieben Prozent). Damit implodierte der Merit-Order-Hedge der Wien Energie.

Wie man sieht, kann sich eine theoretisch durchaus intelligente Handelsstrategie in der Praxis als komplett falsch erweisen, wenn Märkte im "insane mode" sind, es also zu unerwarteten Schocks ("tail risks") kommt. An der Börse gibt es eben keine "bombensicheren" Geschäfte. Das lernen angehende Risikomanager im ersten Proseminar bezüglich der derivativen Finanzinstrumente. Der Fehler der Wien Energie könnte demnach darin bestanden haben, auf den vermeintlichen Kausalzusammenhang der Merit-Order spekuliert und übersehen zu haben, dass die Energiemärkte bereits seit Monaten im "insane mode" sind.

Ein gutes Geschäft ist der Deal am Ende der Laufzeit aber auf jeden Fall. Die Frage ist nur, für wen. Wir Steuerzahlerinnen und Steuerzahler drücken der Wien Energie ganz fest die Daumen. (Michael Böheim, 6.9.2022)