Sandrina Illes war schon Welt-, Europa- und österreichische Staatsmeisterin im Duathlon (Radfahren und Laufen), ebenso x-fache Staatsmeisterin in anderen Leichtathletik- und Laufdisziplinen. Und vergangenes Wochenende hat sie bei den World Games in Birmingham, Alabama, im Duathlon einen mehr als respektablen 5. Platz geholt.

Nun geht es in einer Kolumne aber nicht um Liga- und Leistungssporttriumphe, sondern um Jedermensch- und Normalo-Sport. Sandrina Illes' Birmingham-Geschichte passt hier aber trotzdem her, weil sie für vieles steht, was Sport zu mehr als bloß Bewegung macht: dass Illes sich von wirklich blöden Rahmenbedingung nicht kleinkriegen ließ etwa. Wie sie das Bestmögliche aus einer ganz schlechten Ausgangslage machte. Aber auch, wie ihre Konkurrentinnen und deren Betreuer sich verhielten.

Foto: www.sandrina-illes.at

Aber der Reihe nach: Die World Games finden alle vier Jahre, immer im Jahr nach Olympischen Sommerspielen, statt. An wechselnden Orten mit bereits bestehender Infrastruktur. Es geht um Sportarten, die nicht zum olympischen Kanon gehören, es aber verdienen würden. Außerdem gibt es Disziplinen mit Publikumsbeteiligung. Duathlon gehört zur ersten Kategorie – und Sandrina Illes gehört zu den Besten der Welt.

Blöderweise schlug auf der Reise nach Birmingham Illes' Fahrrad aber einen Weg ein, den derzeit viel Gepäck wählt: nach irgendwo anders.

Noch blöderer Weise kann man so ein Wettkampfrad nicht einfach im nächsten Shop kaufen. Oder gar ausborgen: Das sind sauteure, präzise auf den oder die Athletin abgestimmte Spezialwerkzeuge. Wenn Illes das Handtuch geworfen hätte, hätte ihr niemand einen Vorwurf gemacht.

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Nur – Sportbotschaft Nummer eins – ist Aufgeben keine Option. Nicht, solange nicht wirklich alle Optionen ausgeschöpft sind. Und so fragte Sandrina über Social Media, ob nicht irgendjemand irgendjemand kenne, der oder die in Alabama ein auch nur ansatzweise passendes Rad herborgen könne.

Versuche zu helfen gab es viele. Auch von denen, die von einem Nichtantreten der Medaillenanwärterin profitiert hätten: Der niederländische Nationaltrainer bot ihr sein Rad (leider zu groß) an. Konkurrentinnen halfen mit Kleinteilen aus. Sogar später noch, quasi auf der Strecke. So etwas zählt. Das ist Sportbotschaft Nummer zwei.

Botschaft Nummer drei lautet: Mensch und Wille, Können und Einsatz sind bei aller Liebe zu und allem Glauben an das Material immer noch die entscheidenden Faktoren. Das zeigt sich daran, dass Illes mit einem geborgten, zu großen und für sie komplett "falsch" aufgesetzten Rad beinhart kämpfte und den fünften Platz erreichte, was uns zur eigentlichen Geschichte von heute bringt:

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Vom Duathlon kann auch eine Weltmeisterin (hier im Bild: der Zieleinlauf von 2018) nicht leben. Darum hat Sandrina Illes auch einen "anständigen" Beruf: Sie ist studierte Sportbiomechanikerin. Spezialgebiet: Laufen.

Grob vereinfacht gesagt, bringt Illes Läuferinnen und Läufern richtiges Laufen bei. Also jenes, das Kinder meist beherrschen, dann aber verlernen. Nicht nur, was Technik, Haltung und Bewegungsabfolge angeht, sondern auch Fragen der Lust und der absichtslosen Freude berührt.

Eines der Hauptprobleme beim Laufen der Erwachsenen, weiß die Expertin, sind die Schuhe. Daran erinnerte sie mich nach meiner Schuh-Kolumne der Vorwoche.

Trotz Stress, Radfrusts und Wettkampfs in Birmingham nahm sich Sandrina Illes Kopf, Herz und Zeit für ein Interview zum Thema Material und Technik beim Laufen.

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Tom Rottenberg: Sie gelten als DIE Laufanalyse-Spezialistin in Österreich. Was genau ist Ihre "Mission"?

Sandrina Illes: Vorweg: Ich gendere nicht aus Ignoranz nicht, sondern weil mir die derzeit üblichen Lösungen so gar nicht gefallen und ich nicht finde, dass die Beschreibung des Geschlechts in den meisten Kontexten nötig ist ... als Frau kann ich mich dem leichter entziehen als ein Mann.

Aber zur Frage: Ich möchte Läufern unabhängig von Leistungsbereich und Erfahrung vermitteln, wie man möglichst gesund, verletzungsfrei und schnell im individuellen Rahmen laufen kann.

Sehr schade finde ich, wenn jemand motiviert wäre, aber nicht kann, weil das Knie oder irgendetwas zwickt. Meist findet sich eine Möglichkeit. Der Weg ist unterschiedlich langwierig – aber hoffnungslos ist es selten. Und: Bei fast jedem finden sich Schräubchen, an denen man drehen kann!

Rottenberg: Als wichtigste Schraube wird oft der Schuh genannt. Löst der alle Probleme?

Illes: Laufschuhhersteller hätten natürlich gerne, dass man mit teurem Material "ganz wie von selbst" schneller wird und Verletzungsprobleme löst. Generell kann man aber sagen, dass Probleme fast immer nur kurzfristig kaschiert oder verlagert werden, wenn ein neuer Schuh ein Schmerzproblem löst. Fast immer spielen Lauftechnik und Trainingsgestaltung die Hauptrolle – das hat nichts mit dem Schuh zu tun.

Macht ein alternder Schuh Probleme, weil die Dämpfung nachlässt, hat er im neuen Zustand Lauftechnikschwächen einfach besser kaschiert.

Zum Beispiel: Überpronation im Sprunggelenk (zu starkes Nach-innen-Kippen der Ferse; Anm) ist fast immer durch eine instabile Beinachse bedingt. Das am Schuh durch "Gegenhalten" (also eine "Pronationsstütze", Anm.) zu mindern, anstatt die richtigen Muskeln zu trainieren, ist kreativ – und wenig nachhaltig: Das Knie wird so zu wenig stabilisiert. Langfristig können da die Menisken leiden. Wenn man das bemerkt, ist das Problem schon fortgeschritten – und Knorpel herbeizaubern geht nicht, man darf sich mit bestehenden Schäden eben noch weniger "Schlampigkeiten" bei der Lauftechnik leisten.

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Rottenberg: Lenkt die Schuhdebatte also von Technikfragen ab?

Illes: Total. Viele Menschen kaufen gerne. Der Kauf führt zur Endorphinausschüttung – hier mehr Laufmotivation. Der Fokus auf die Verbesserung von Lauftechnik und Trainingsmethoden ist dagegen am Anfang mühevoll. Klar: Spürt man Fortschritte und fühlt sich gut und "leicht" beim Laufen, ist das ein schönes Gefühl, fast wie Fliegen. Aber das dauert länger als der Gang zum Schuhgeschäft. Aber: Das eine schließt das andere nicht aus, läuft man regelmäßig, sollte man sowieso mehrere unterschiedliche Modelle laufen. Um den Fuß nicht zu sehr an ein Modell zu gewöhnen – und wegen der Haltbarkeit der Schuhe.

Rottenberg: Es ist also kein Entweder-oder, sondern ein Sowohl-als-auch?

Illes: Natürlich. Prinzipiell muss ein Schuh passen, sowohl vom Schnitt her als auch biomechanische Aspekte betreffend – etwa was Flexibilität angeht. Aber viel ist trainierbar.

Bis vor wenigen Jahren waren die "schnellen Schuhe" die leichtesten, minimalistischsten. Ein Laufanfänger mit guter Technik und schlechter Kondition kann mit so etwas sogar beginnen, ein Marathonläufer mit 100 Wochenkilometern, der dicke Stabilschuhe gewohnt ist, wird aber lange für die Umgewöhnung brauchen. Dafür wird er muskulär extrem profitieren und ein "kompletterer" Athlet werden: Nicht nur Herz-Kreislauf, sondern auch die stoßdämpfende Muskulatur und der "Abdruck" werden trainiert.

Nun kommt durch die hohen, schnellen Carbon-Inlays aber eine neue Technologie dazu: Auf einmal sind schnelle Schuhe bequem und muskelschonend. Das bringt Chancen, aber auch Risiken. Unter anderem brauchen hohe Sohlen einen sehr stabilen Laufstil, sonst ist die "Fallhöhe" bei seitlichen Kippbewegungen stärker. Und: Der Fuß beim fast ausschließlichen Laufen mit hohen Sohlen wird immer "fauler" – der anfängliche Vorteil schwindet damit.

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Rottenberg: Ist den meisten Leuten bewusst, was der Schuh tut – und was die Technik?

Illes: Man muss so realistisch sein, dass die Lauftechnik am Ende eines intensiven Laufes nicht mehr ideal sein wird. Möchte ich in einem Rennen an die Grenze gehen, werde ich den einen oder anderen Kilometer mit suboptimaler Fußfunktion und mangelhafter Körperhaltung laufen.

Bei einem Marathon, wo man im Training nie Wettkampfdistanz läuft, würde ich daher immer einen Schuh mit einem Back-up an Dämpfung und Stabilität wählen. Der Schuh sollte nicht zu stark gealtert, aber gut eingelaufen sein.

Was ein Schuh aber definitiv nicht kann: Er dämpft niemals so, dass Stoßbelastungen nicht auf Dauer die Gelenke, insbesondere die Knie, überlasten. Dämpfung kaschiert nur einen harten Auftritt, damit man nicht sofort Schmerzen an Mittelfußköpfchen und Ferse bekommt. Aber sie kann Aufprallkräfte niemals in physiologische Bahnen lenken, wie es das eigene Fußgewölbe und das Zusammenspiel aus Körperschwerpunkt, Fußauftritt und Gelenkwinkel können.

Der Schuh macht auch nicht "schnell": Es ist immer die eigene Trainingsleistung, die zu einer Steigerung führt.

Bei sehr instabilen Läufern kann ein stabiler Schuh helfen, die innenseitigen Sehnen am Sprunggelenk nicht zu überdehnen. Trotzdem ist es wichtig, die korrekte Stabilisation zu trainieren – von der Hüfte weg. Der Schuh kann den Weg verkürzen, nicht eliminieren. Außerdem passiert es schnell, dass der Fersenbereich nach innen kippt. Dann ist der Schuh unter Umständen schon nach kurzer Zeit nicht mehr zu gebrauchen. Übersieht man das, ist der Schuh dann tatsächlich (mit)schuld an Verletzungen.

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Rottenberg: Aber wo lernt man "richtiges" Laufen?

Illes: Ein guter Trainer will nicht einfach die "perfekte" Lauftechnik eines Profis kopiert sehen, sondern geht auf die Tempobereiche des jeweiligen Sportlers, das gewünschte Gelände, die Distanzen und natürlich vor allem auch die individuelle Anthropometrie (Hebelverhältnisse durch das Skelett, Anm.) ein.

Rottenberg: Und wie lange muss man dann üben?

Illes: Lauftechniktraining ist – so wie das Techniktraining in allen Sportarten – nie abgeschlossen. Es gibt keinen perfekten Läufer. Es ist auch nicht wichtig, immer alles perfekt zu machen: Wir versuchen, dem individuellen Idealbild nahe zu kommen.

Ich habe meine Lauftechnikcheckliste. Punkte, an die ich mich immer wieder erinnere: Brustbein nach vorne oben, hohe Handgelenke und tiefer Ellenbogen, Frequenz hochhalten. Jeder Läufer sollte aber seine eigene Checkliste kennen: Es bringt ja nix, wenn ich irgendwo lese, dass ich auf Oberkörpervorlage achten muss – obwohl ich damit kein Problem habe. Dafür wird ein anderes – subjektiv wichtigeres – Thema nicht bearbeitet.

Man kann ergänzend auch ein- bis zweimal die Woche gut aufgewärmt Lauf-Abc mit einbauen, die Auswahl der Übungen sollte aber auf die individuellen Stärken und Schwächen abgestimmt sein. Fokussiert kann man in sechs Monaten die Lauftechnik so weit verbessern, dass man den überwiegenden Teil der Laufkilometer in "sauberer" Technik zurücklegt.

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Rottenberg: Gibt es "klassische" Probleme oder Fehler?

Illes: Ich betrachte es gerne von oben nach unten, weil eine Korrektur im oberen Bereich oft Fehler im unteren Bereich löst oder abmildert.

- Oberkörperschwerpunkt zu weit hinten, dadurch Abbremsen bei jedem Schritt.

- Handgelenke zu tief, kein lockeres Schwingen, Frequenz wird behindert, manchmal kommen Nackenverspannungen dazu.

- "sitzender" Laufstil – dann stimmen die Gelenkswinkel im Beinbereich nicht mehr und neben der größeren Anstrengung verstärkt sich seitliche Instabilität.

- harte Fersenlandung: Laufen wird zu "Stop und Go" mit deutlich erhöhtem Gelenksverschleiß.

- Temposteigerungen werden über die Arme statt die Beine und durch zu lange Schritte eingeleitet: schnelle Ermüdung.

Seitliche Instabilität habe ich bewusst nicht dazugenommen, weil das kein reines Lauftechnikthema ist. Allerdings kann man durch Lauftechniktraining die seitliche Auslenkung von Beinachse oder Ferse deutlich reduzieren – insbesondere, wenn man mit den Armen stark rotiert oder mit wenig Streckung läuft.

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Rottenberg: Wann und wieso verlernen wir eigentlich, natürlich zu laufen?

Illes: Die meisten Kinder haben eine schöne Lauftechnik, und im Laufe der Jugend verlernen wir diese. Ich kann von mir sprechen, ich hatte falsche Vorbilder – in der Werbung sieht man die Sub-3min/km-Läufer in Slow Motion. Versucht man diese Bewegung bei 6min/km zu kopieren, kommt nix Brauchbares dabei heraus. Hinzu kommt, dass viele das Laufen erst nach vielen Jahren mit wenig Sport, aber viel Sitzen entdecken: Der Hüftbeuger ist verkürzt, die Fußmuskeln schwach, und oft gibt es keine Vorstellung davon, wie "gutes Laufen" geht. Beim Schwimmen denkt man sich "Das lerne ich jetzt gescheit", aber nur die wenigsten sagen sich beim Laufeinstieg, dass sie Unterstützung brauchen könnten.

Rottenberg: Apropos "natürlich": Wäre Barfußlaufen nicht die "natürlichste" Art zu laufen?

Illes: Barfußlaufen ist ein geniales Techniktraining. Als Vorübung kann man daheim auf hartem Boden herumtraben und versuchen, leise aufzukommen. Hätten wir von klein an nie Schuhe an, wäre es das Einfachste und Natürlichste, so zu laufen. Nachdem das nicht der Fall ist und Schuhe netterweise auch vor Hitze, Kälte, Nässe und Scherben schützen, bin ich ganz froh, dass wir darauf zurückgreifen können.


Mehr Infos & Kontakt hier.

Einen ausführlichen Bericht über ihre Erlebnisse bei den World Games schrieb Illes hier.


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