Manche Bilder brennen sich so stark, so nachhaltig in das öffentliche Gedächtnis ein, dass sie den Verlauf der Geschichte zu ändern vermögen – zumindest ein bisschen. Die Fotos der Gefolterten in Abu Ghraib entsetzten 2004 die USA und warfen ein Schlaglicht auf die Besatzung im Irak. Mit seinem Foto Der Schrecken des Krieges setzte der Fotograf Nick Út 1972 der damals neunjährigen Vietnamesin Phan Thị Kim Phúc ein Denkmal, die nackt und mit Brandwunden übersät vor Napalmbomben floh.

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Der 26jährige Serhii Lahovskyi weint an einem notdürftig ausgehobenen Grab um seinen Freund Ihor Lytvynenko, der beim russischen Angriff auf Butscha getötet wurde.
Foto: REUTERS

Nun sind es die monströsen Kriegsverbrechen der russischen Armee, die seit einer Woche anhand der Bilder aus Butscha aller Welt einmal mehr die Schrecken eines Krieges vor Augen führen. Dutzende Leichen von Zivilisten liegen dort auf offener Straße, einige gefesselt, einer heimtückisch von seinem Fahrrad geschossen, durch die Besatzung eines russischen Schützenpanzers, wie ein Video nahelegt.

Die Berichte aus Butscha, einem Vorort Kiews, und anderen Orten, an denen Wladimir Putins Soldateska mutmaßlich marodierte, ließ die zivilisierte Welt den Atem anhalten. Und sie werfen fundamentale Fragen auf: Wie lange kann der Westen dem Treiben Putins noch zusehen, ohne selbst ins Visier der russischen Armee – samt ihren Nuklearwaffen – zu geraten? Und warum tut der russische Präsident, der bis vor kurzem noch in Staatskanzleien zwischen Wien und Washington hofiert wurde, das? Der Westen, so viel steht fest, erweist sich nach sechs Wochen Krieg als ziemlich ratlos.

Für das neutrale Österreich gilt das im Besonderen. Von einem Boykott von russischem Gas, wie er in der gesamten EU dieser Tage angedacht wird, will man in Wien nichts wissen. Ganz untätig will sich die Regierung aber auch nicht geben. Am Donnerstag war es so weit: Vier der insgesamt 146 im Außenministerium am Wiener Minoritenplatz akkreditierten Diplomaten in russischem Sold werden ausgewiesen. Die Personen hätten mit dem Wiener Übereinkommen unvereinbare Handlungen gesetzt, hieß es. Sprich: Sie seien Spione gewesen. Seit langem wird in den Fluren und Gängen des politischen Wien gemunkelt, dass die angesichts der Größe der Alpenrepublik überdimensionierte Vertretung Putins hierzulande vor allem als Agentenbasis diene. In der Financial Times wurde Wien kürzlich sogar als "Flugzeugträger" für russische Spionage im Westen gebrandmarkt.

Kaum mehr als Symbolik

Viel mehr als Symbolik stellt die Ausweisung der russischen Diplomaten freilich nicht dar. Too little, too late, lautet das vorläufige Fazit des plötzlichen Wiener Aktionismus in Sachen Diplomaten. Andere EU-Länder, darunter auch kleinere, sind in der vergangenen Woche, als das Massaker von Butscha ruchbar wurde, weit energischer ans Werk gegangen: Die radikalsten Konsequenzen zogen Litauen und Slowenien. Die Baltenrepublik, die sich von Moskaus Expansionsdrang selbst massiv bedroht fühlt, gab dem russischen Botschafter persönlich den Weisel. Österreichs südliches Nachbarland Slowenien, das 1991 selbst mit einer Invasion durch die serbisch dominierte jugoslawische Volksarmee zu kämpfen hatte, ging nach Artikel 11 der Wiener Konvention vor, die eine Verringerung des Botschaftspersonals auf den Umfang des eigenen Personals im Entsendeland ermöglicht. Damit müssen 33 der 41 russischen Diplomaten Ljubljana verlassen. Die größeren EU-Staaten legten ihre Samthandschuhe ohnehin weit früher als Österreich ab: Am Montag bereits wiesen Deutschland und Frankreich dutzende Diplomaten aus.

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Wladyslawa Liubarets geht mit ihrer Familie durch das zerbombte Butscha, vorbei an zerstörten russischen Panzern, um ihre Schwester zu suchen.
Foto: Reuters / Alkis Konstantinidis

Was solche Manöver bringen? Nicht viel, glaubt der Innsbrucker Politologe und Russland-Kenner Gerhard Mangott: "Man wusste schon lange von diesen Spionen, hat aber nichts dagegen getan und nun öffentlichkeitswirksam dem Druck der EU-Partner nachgegeben. Wenn Russland wie angekündigt spiegelbildlich reagiert und vier österreichische Diplomaten aus Moskau ausweist, schmerzt Österreich das viel mehr als Russland." Der Krieg in der Ukraine, so ist Mangott überzeugt, wird durch solche "Akte der Missbilligung" um keine Sekunde früher enden.

Was genau da "missbilligt" wird, beschreiben Kommentatorinnen und Kommentatoren im Westen einhellig als Kriegsverbrechen. Manche bemühen zur Beschreibung dessen, was aus Butscha und anderen Städten rund um Kiew gemeldet wurde, gar das Wort "Genozid" – Völkermord. Laut einer Uno-Konvention von 1948 fallen darunter Handlungen, "die in der Absicht begangen werden, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören".

Ein schwerer Vorwurf gegen Russland, den auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj und der Kiewer Bürgermeister Witali Klitschko erheben. Spaniens Ministerpräsident Pedro Sánchez, ein Sozialist, war dann der Erste aus der Riege der EU-Staats- und -Regierungschefs, der ebenfalls so weit ging. Auch sein polnischer Kollege Mateusz Morawiecki, ideologisch kein Genosse des Iberers, nannte das Vorgehen des Kreml ebenfalls Völkermord. Der britische Premier Boris Johnson sah in Butscha immerhin eine Vorstufe erreicht. Doch halten die offenkundigen, im Zeitalter von Drohnen und sozialen Medien auch bestens dokumentierten Untaten der russischen Invasoren diesem Vorwurf stand?

Komplizierter Nachweis

US-Präsident Joe Biden, ansonsten seit Kriegsbeginn um kein explizites Wort verlegen, wollte sich der Genozid-Anklage seiner EU-Kollegen nicht anschließen. Er sprach lediglich von "Kriegsverbrechen", die Putin auf seinem Feldzug im Nachbarland begehe. Auch Fachleute hegen ungeachtet des Grauens, das sich in der Ukraine gegenwärtig abspielt, Zweifel an der Rhetorik von Sánchez und Kollegen: Der Völkerrechtler Ralph Janík von der Universität Wien etwa sagte dem STANDARD, dass "der Vorsatz, das ukrainische Volk ganz oder teilweise auszulöschen", nur schwer zu erbringen sei. Auch wenn die Funksprüche russischer Militärs, die am Donnerstag vom deutschen Bundesnachrichtendienst (BND) verbreitet wurden, durchaus nahelegten, dass die Tötungen von Butscha nicht zufällig oder spontan passiert seien, müsse "das Vorsatz- oder Planelement eines Verbrechens eindeutig nachgewiesen" sein, um von einem Genozid sprechen zu können.

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Natalya weint daheim, in ihrem Garten in Butscha, um ihren Mann und ihren Neffen, die von russischen Soldaten getötet wurden.
Foto: AP / Vadim Ghirda

Kalkulierte Brutalität

Dass die russische Armee kühl und strategisch auf Gräueltaten gegen die ukrainische Zivilbevölkerung setzt, um Widerstand im Keim zu ersticken, gilt dem BND, der am Mittwoch deutsche Bundestagsabgeordnete über seine Erkenntnisse unterrichtet, jedenfalls als wahrscheinlich. Der US-Historiker und Genozid-Forscher Eugene Finkel von der renommierten Johns-Hopkins-Universität geht noch einen Schritt weiter: Dem Spiegel sagte er, dass der Völkermord zwar wohl nicht von Beginn des Kriegs an von russischer Seite geplant gewesen sei, man sich nun aber in einen solchen hineingesteigert habe.

Dass nun, wie von ukrainischer Seite am Mittwoch behauptet, an der Front – etwa im besonders umkämpften Mariupol – von russischen Truppen mobile Krematorien eingesetzt werden, um Leichen rascher verbrennen zu können, ist für den Bürgermeister der Hafenstadt ein Versuch, weitere Kriegsverbrechen zu vertuschen. "Das ist ein neues Auschwitz und Majdanek", schrieb Wadym Bojtschenko auf Telegram. Mindestens 5000 Zivilistinnen und Zivilisten sollen durch den wochenlangen Beschuss Mariupols bisher getötet worden sein. Wie viele es genau sind, ist nicht zu verifizieren. Der ukrainische Verteidigungsminister Oleksij Resnikow, wie sein Chef Selenskyj ein PR-Profi in Camouflage, will zwar vorerst nicht von Genozid sprechen. Für Putin hat er aber trotzdem einen historischen Vergleich parat: "Ein erfolgloser Blitzkrieg wird mit einem erfolgreichen Nürnberg enden."

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Polizisten arbeiten an der Identifizierung der Zivilisten, die in Butscha während des Abzugs der russischen Truppen getötet wurden.
Foto: AP / Rodrigo Abd

Gescheiterte Strategie

Dass der von Putin zynisch "militärische Spezialoperation" genannte Angriffskrieg tatsächlich bisher nicht so gelaufen ist, wie es sich die Kreml-Strategen ausgemalt haben dürften, steht für den Bundesheer-Analysten Markus Reisner von der Theresianischen Militärakademie in Wiener Neustadt fest. Der Abzug der russischen Truppen aus dem Großraum Kiew samt ihren Gräueltaten in den Vororten Butscha, Irpin und Hostomel ist für ihn der Beweis, dass Russlands Taktik im Kreml einer gründlichen Evaluation unterworfen wurde. Aus dem "Blitzkrieg" samt freudigem Empfang durch die von den "Nazis" befreite ukrainische Bevölkerung wurde schließlich nichts.

Auch deshalb verschärfte die Armee nach und nach ihre Gangart. Zunächst hatte Moskau gehofft, einen "Enthauptungsschlag" gegen die Kiewer "Nazi"-Regierung führen und schnell, tief und unter Umgehung der Städte die Fläche des riesigen Landes erobern zu können. Binnen weniger Tage wurde aus der nach Reisners Worten "moderaten" Invasion ein mit immer schwereren Waffen geführter Krieg um Städte wie Mariupol, Charkiw oder Mykolajiw. Für den Bundesheer-Oberst ist das ein klares Indiz für eine gescheiterte Taktik: "Das russische Verteidigungsministerium hat bei einer Pressekonferenz am 26. März der Welt seinen Strategiewechsel präsentiert und erklärt, man habe die großen Städte ohnehin nicht angreifen wollen. Dass dies doch geschehen sei, sei bloß ein Ablenkungsmanöver gewesen, um sich auf das eigentliche Ziel zu konzentrieren, den Donbass."

DER STANDARD

Zu viele Fronten

Nun dürfte die russische Armee versuchen, zuallererst die ostukrainische Großstadt Charkiw unter Kontrolle zu bringen, deren großer Bahnhof die Nachschublinien sichern würde. "Ein wesentlicher Unterschied ist auch, dass die russische Armee nicht mehr an vier Fronten gleichzeitig angreift, sondern sich auf eine Front konzentriert", sagt Reisner. Nun geht es für Moskau darum, an der bisherigen Kontaktlinie zwischen den Donbass-Separatisten und der ukrainischen Armee Charkiw mittels zweier Zangenbewegungen östlich des Dnipro einzukesseln. "So könnte Russlands Armee zumindest das Narrativ der Befreiung des Donbass erfüllen."

Bis es so weit ist, droht der Ukraine ein verheerender Abnützungskrieg – und der Zivilbevölkerung zwischen den Fronten weiteres Leid. "Das Massaker von Butscha wird nicht das letzte bleiben, weil diese Art von Krieg jede Hemmung fallenlässt und eine Entmenschlichung des Gegners eintritt. Die Ukrainer sprechen von ‚Orks‘, also nichtmenschlichen Wesen, wenn sie Russen meinen, umgekehrt ist es der ‚Nazi‘, den man leichter tötet", fürchtet Reisner. "Die Strategie der Ukrainer wird sein, den Russen jeden Meter ihres Bodens so blutig zu verkaufen, dass sie das Land verlassen."

Was die Ukrainer brauchen, um der russischen Armee auch im Donbass gewachsen zu sein, ist nach Ansicht von Fachleuten schweres Gerät, zunächst etwa Flugabwehrraketen des Typs S-300 sowie Artilleriesysteme samt Munition, um die Luftüberlegenheit der russischen Armee zu brechen und die zerstörten Depots zu ersetzen.

"Waffen, Waffen, Waffen"

Am Donnerstag hat Kiew den Druck auf den Westen noch einmal erhöht. Wie es scheint, mit Erfolg: Unter dem Eindruck des Massakers von Butscha haben die Außenminister der Nato-Mitglieder in Brüssel der Ukraine weitere Waffenlieferungen versprochen. "Waffen, Waffen und Waffen", brachte Dmytro Kuleba, Wolodymyr Selenskyjs Chefdiplomat, gleich zu Beginn des Treffens auf den Punkt, was die Ukraine nun brauche. Denn: "Wir wissen, wie man kämpft, wir wissen, wie man gewinnt."

Ohne noch mehr hässliche Bilder, so viel steht nach sechs Wochen Krieg fest, wird das nicht gehen. (Florian Niederndorfer, 9.4.2022)