Unterwegs in den Westen: "Was dort Betroffenheit heißt, hier in Menschlichkeit verwandeln."

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Gesund und froh wollen die Menschen sein, erfolgreich meinetwegen, wohlhabend oder reich, sicher, in sicheren Verhältnissen jedenfalls – aber moralisch, was soll das? Was Moral heißt, entfaltet sich in zwei Sphären: in dir drinnen einerseits, in deiner Innerlichkeit, und andererseits im gesellschaftlichen Feld, in dem, was um dich herum als moralisch gilt.

Gibt die Gesellschaft strenge Moralen vor, gibt es drei Möglichkeiten: Du akzeptierst diese Regeln und versuchst dich nach ihnen zu verhalten; du kümmerst dich nicht um sie, übertrittst sie – als ein Verbrecher; du nimmst die Regeln äußerlich an, du gibst vor, sie zu achten und einzuhalten – als Pharisäer. Kennt die Gesellschaft aber keine Moral oder bloß Reste überkommener Moralen – oder kennt sie bloß noch das Strafgesetzbuch: Wie verhältst du dich dann?

Moral, kommt mir vor, ist ein Projekt. Wenn du Glück hast, begegnet dir in jungen Jahren ein Mensch, von dem du dir sagst: So möchte ich sein! Das weitere Leben ist, so gesehen, ein Versuchsfeld, in dem sich zeigen oder erweisen wird, ob dein Vorsatz gut war und ob und inwieweit du ihm gerecht werden konntest.

Ob er gut war? Einerseits eine Frage des Inhaltlichen, des vorgelebten Regelwerks, andererseits die Frage, inwieweit dieses Regelwerk für deine Lebensimpulse passend war. Wenig erfreulich, dass in der Hinsicht keine Eindeutigkeit herrscht. Du kannst dir einen Heiligen zum Vorbild nehmen, genauso gut aber einen Verbrecher oder, sagen wir es verträglicher: einen, der sich um die Regeln nicht kümmert.

Talk is cheap

Begegnet dir keiner, den du zum Vorbild nehmen kannst oder willst, bleibt dir bloß das gesellschaftliche Dekret beziehungsweise Beteuerungen, die in Richtung einer Moral deuten. Talk is cheap, heißt es so trefflich bei den Briten. Papier ist geduldig, heißt es bei uns. Da ist guter Rat teuer. Geworfenheit, ein Begriff der Existenzphilosophie, gründet er nicht auf dem Gefühl des Verlustes einer Regel? Freilich sind Lagen denkbar, wo einem nichts mehr fehlt, nichts mehr vermisst wird, wo alles einfach ist, wie es ist.

Halten wir fest, dass Moral und Selbstachtung zusammenhängen. Selbstachtung, das meint: Ich bin zufrieden mit mir. Ich habe recht getan. Es passt. Ich kann, wie es so launig heißt, morgens in den Spiegel schauen. Selbstachtung, die sich nicht verbiegt und verbiegen lässt – jedenfalls ein Marker für die Moral. Du spürst doch genau, wenn du abweichst oder abgewichen bist, den grünen Bereich verlassen hast.

Gewissen

Früher einmal hat man in dieser Hinsicht von Gewissen gesprochen. Gewissen – auch so ein Wort. Überhaupt fällt auf, dass all diesen Begriffen wie Moral, Gewissen et cetera etwas Vorgestriges und Abgelebtes anhaftet. Wer würde wohl freiwillig in irgendeiner Runde über Moral reden? Eine besondere Schweinerei da und dort regt freilich auf, meist kurz und vorübergehend. Bis zur nächsten und übernächsten. Die Welt der Waren wieder braucht keine Moral, es sei denn eine, die dem Absatz förderlich ist.

Eine weitere Fragwürdigkeit könnte sich aus dem Umstand ergeben, dass Europa und die USA bald einem Block der Diktaturen gegenüberstehen könnten. Momentan sieht es danach aus. Es wäre nun aber ganz falsch, dem Block der Diktaturen Moralvorstellungen absprechen zu wollen, im Gegenteil: Dort feiern Moralen wie Gefolgschaftstreue, Pflichterfüllung und Ähnliches fröhliche Urständ. Der marktwirtschaftliche, um nicht zu sagen, der kapitalistische Block steht dagegen in moralischer Hinsicht eher blank da. Moralen funktionieren, werden sie von denen, die an der Macht sind, instrumentalisiert, durchaus als Waffen.

Eine Kettenreaktion

Früher hat man das Gewissen gern und oft mit einer feinen Waage verglichen. Hast du dich einmal ans grobe Maß gewöhnt, ans Ungefähre im Urteil, daran, mit dem Finger die Waage so nebenher ein wenig nachzujustieren, wenn es denn passend scheint, dir nützt, dann wirst du bald auf wilden Wegen sein, sozusagen im freien Gelände: Das kann abenteuerlich, erhebend, beglückend und manchmal gar lustig sein. Solch wilde Freude muss ein wildes Ende haben, heißt es bei Shakespeare. Es hat noch nie an Tollköpfen gefehlt, die den Ordnungen eine Nase gedreht haben. Und, man muss es zugeben: Manchmal hatten und haben sie recht damit.

Moral ist, wie schon angedeutet, auch eine Sache gesellschaftlicher Interaktion. Ein wenig gleicht Moral einem nach Regeln gespielten Spiel: Hält einer der Spielteilnehmer sich nicht an die Regeln, sehen sich die Mitspieler bald ermächtigt, sich ihrerseits auch nicht regelkonform verhalten. So können schon einige Mitspieler, und insbesondere solche, die hohes Ansehen genießen, eine Kettenreaktion der Verwilderung auslösen, bis zuletzt eine Atmosphäre von Heuchelei, Trickserei und versteckter Gewalt geschaffen ist.

Relikte des Überkommenen

Ehre, Anstand und auch Moral sind aus hierarchisch gebauten Gesellschaften von früher auf uns gekommen. Da hatte bald jeder Stand seinen eigenen Ehrbegriff, seine eigene Moral. In der offenen Gesellschaft von heute finden wir bloß noch Relikte des Überkommenen, etwa indem wir an politische Machtträger oder Kirchenleuten höhere Ansprüche in Sachen Moral stellen. Was den Begriff Ehre anlangt, führt er heute, sehen wir vom Strafrecht ab, ein eher gespensterhaftes Leben.

DER STANDARD

Stellen wir uns ein Fußballfeld vor, auf dem die Spieler zweier Mannschaften nach den Regeln, wie wir sie kennen, ein Match austragen. Immer öfter müssen wir allerdings merken, dass versteckte oder grobe Fouls passieren, ohne dass der Schiedsrichter eingreifen würde. Je länger das Spiel läuft, desto rücksichtsloser und brutaler wird um Ball und Sieg gekämpft.

Gelegentlich läuft gar der eine oder andere Coach aufs Feld, beglückwünscht einen der besonders rücksichtslosen Spieler, gerade seine Mannschaft eilt unaufhaltsam dem Sieg entgegen – anderntags hebt der Sportteil der auflagenstärksten Zeitung eben die Brutalos, die sich an so gut wie keine Regel gehalten haben, als Helden und Sieger hervor.

Der Edle Mensch

Zwar heißt es im ersten Brief des Paulus an die Korinther: Wisst ihr nicht, dass die, die im Stadion laufen, zwar alle laufen, jedoch nur einer den Siegespreis erhält? Lauft so, dass ihr ihn gewinnt. Nach Paulus sollen die Läufer aber nicht nach einem vergänglichen Siegespreis laufen, sondern nach dem Sieg über sich selbst.

In den Analekten des Konfuzius begegnet uns der sogenannte Edle Mensch: Der Edle denkt an die Tugend, der kleine Mann ans Wohlleben. Der Edle denkt ans Gesetz, der kleine daran, wie er sich einen Vorteil verschaffen könnte. Was das Gewissen angeht, übt Konfuzius eine tägliche Prüfung. Wie bekannt uns das vorkommt, aus fernen Kindertagen her.

Zum einen fragt sich der Meister, ob er im Umgang mit anderen korrekt war; zum Zweiten, ob im Umgang mit Freunden aufrichtig; zum Dritten, ob er, was er seinerseits gelernt, auch richtig praktiziert hat. Gerade in Sachen der Moral hebt Konfuzius das Traditionsband hervor. Moral fällt nicht vom Himmel. Moral ist etwas Gelerntes, erfüllt, kräftigt und entfaltet sich durch Anwendung. Ist sie einmal verloren – wie schwer ist sie wiederzugewinnen!

Herz und Verstand

Das Herz des Menschen ist heiß und dumm. Der Verstand klar und kalt. Wie die beiden zusammenbringen? Jede Moral, kommt mir vor, gründet auf der unvernünftigen Güte des menschlichen Herzens. Ja, so etwas gibt es; vielfältig begegnet uns das Phänomen im gesellschaftlichen Verkehr. Wie gerade eben in Sachen Ukraine, in Sachen Flüchtlinge.

Es ist an uns, die undeutliche Sprache des Herzens in die Sprache der Vernunft zu heben. Oder, anders, was dort Betroffenheit heißt, hier in Menschlichkeit zu verwandeln. Wir wollen nicht, dass der Starke über den Schwachen triumphiert, dass die Lüge über die Wahrheit siegt. Um das aber zu erreichen, müssen wir, wie man sagt, unser Herz in beide Hände nehmen und entschlossen und zielstrebig handeln. (Peter Rosei, ALBUM, 13.3.2022)