Eine Abschaffung der kalten Progression ist auch in der aktuellen Steuerreform nicht vorgesehen.

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Eigentlich sind sich in Sachen kalte Progression alle einig – zumindest theoretisch. Vor der Nationalratswahl 2019 forderten die Spitzenkandidaten der Parlamentsparteien geschlossen die Abschaffung der "heimlichen Steuererhöhung". Zu einer Umsetzung des Reformvorschlags kam es bisher allerdings nicht. Denn die zusätzlichen Einnahmen bieten der Politik Spielraum für regelmäßige Steuerentlastungen.

Grund für die kalte Progression ist Österreichs progressives Abgabensystem. Die Einkommenssteuer ist nach fixen Stufen eingeteilt. Wer mehr verdient, unterliegt höheren Steuersätzen. Wird das Jahreseinkommen an die Inflation angeglichen, rutscht man deshalb automatisch in höhere Tarife. Die Last wird also größer – auch dann, wenn die Reallöhne nicht steigen, sondern sich die Gehälter nur an die Teuerung anpassen.

Eltern profitieren

Was die kalte Progression für den einzelnen Steuerzahler bedeutet, hat die Agenda Austria nun anhand aktueller Daten berechnet (siehe Grafik). Demnach könne die aktuelle Steuerreform die schleichende Mehrbelastung seit der letzten Reform im Jahr 2016 zumindest für Kinderlose nicht wettmachen. Sie werden laut dem wirtschaftsliberalen Institut stärker belastet, als sie entlastet werden. Wer zum Beispiel 2500 Euro brutto verdient und keine Kinder hat, wird im Zeitraum von 2016 bis 2024 ein um 500 Euro geringeres Realeinkommen haben. Profitieren würden vor allem Eltern. Wie die Berechnungen der Agenda Austria zeigen, wird der Familienbonus die kalte Progression, die sich bis 2024 aufstaut, mehr als kompensieren.

Wie viel Geld der Staat durch diese schleichende Steuererhöhung insgesamt einnimmt, ist Gegenstand unterschiedlicher Schätzungen. Im Detail ist die Berechnung kompliziert und hängt vor allem von der Entwicklung der Einkommen ab. Laut Berechnungen des Wirtschaftsinstituts Eco Austria hätte die kalte Progression ohne Reform zwischen 2019 und 2025 zu einer zusätzlichen Steuerbelastung von insgesamt 19,5 Milliarden Euro geführt. Die Corona-Krise habe die Beschäftigung und damit die Bemessungsgrundlage laut Institutsdirektorin Monika Köppl-Turyna allerdings stark geändert. Dazu komme, dass die Inflation heuer und nächstes Jahr höher ausfalle als in der Berechnung angenommen.

Automatische Anpassung

Damit die reale Steuerlast trotz Inflation gleich bleibt, müssten die Stufen der Einkommenssteuer regelmäßig an die erhöhten Gehälter angepasst werden, sagt Köppl-Turyna von Eco Austria. Dafür gäbe es mehrere Möglichkeiten. Die Korrektur könnte etwa jährlich erfolgen, ab Überschreiten einer bestimmten Inflationsschwelle oder durch regelmäßige Parlamentsbeschlüsse. Soll die kalte Progression gänzlich abgeschafft werden, müsste der Tarif laufend an die durchschnittliche Lohnentwicklung angepasst werden – so wie das aktuell etwa in der Schweiz der Fall ist.

Mathias Moser, Assistenzprofessor an der Wirtschaftsuniversität Wien, sieht eine Abschaffung der kalten Progression durch eine automatische Anpassung der Steuerstufen kritisch. "Die Inflationsrate ändert sich je nach Konsumverhalten einer bestimmten Person. Pensionistinnen und Pensionisten sind aufgrund ihres Warenkorbs oftmals von höherer Inflation betroffen." Würde man die kalte Progression mit der durchschnittlichen Preissteigerung abgelten, ergäbe sich dadurch erst recht ein Verteilungseffekt.

Abschaffung würde Spielraum verkleinern

Dass die kalte Progression hierzulande trotz einhelliger Forderungen bisher nicht abgeschafft wurde, hat vor allem politische Gründe. "Steuerreformen sind natürlich immer auch psychologische Maßnahmen", sagt Herbert Kovar, Steuerexperte bei Deloitte Österreich. "Es geht ja darum, Anreize zu setzen, etwa für mehr Konsum oder höhere Investitionen." Die schleichende Steuererhöhung bietet der Politik Spielraum für gezielte Entlastungen. Dazu kommt, dass sich regelmäßige Reformen politisch besser verkaufen lassen.

Laut Moser könnte man die kalte Progression auch als "Vorschuss an den Finanzminister" bezeichnen. Studien hätten ergeben, dass in der Vergangenheit die Mehreinnahmen durch regelmäßige Entlastungspakete wieder an die Steuerzahler zurückgegeben wurden. "Die kalte Progression ist einer der Hebel, die es uns erlauben, überhaupt Reformschritte zu setzen", sagt Moser. Ohne diese Vorschüsse könnte der Staat immer nur an kleinen Stellschrauben drehen. Größere Reformen wären dann schwieriger. (Jakob Pflügl, 7.10.2021)