Leslie Jamison schrieb ein entwaffnend offenes Buch.

Beowulf Sheehan

Jahrelang war 52 Blue der wohl berühmteste Wal der Welt. Forscher haben nämlich festgestellt, dass er auf einer Frequenz "singt", die sonst kein Wal benutzt, und daraus geschlossen, dass er einsam durch die Meere ziehen muss. Menschen weltweit bemitleideten daraufhin in sozialen Netzwerken das Tier, projizierten aber auch ihre eigene Einsamkeit auf es.

Dieses Verhalten schaut sich die US-Autorin Leslie Jamison in ihrem neuen Essayband Es muss schreien, es muss brennen genauer an. Die Tierwelt so zu anthropomorphisieren, der Natur menschliche Gefühle anzudichten, ist das nicht problematisch? Verkennt und verkleinert das die Natur nicht? Das sind Fragen, die Jamison umtreiben.

Ich als Durchlauferhitzer

Manchen mag sie durch ihr Buch Die Klarheit bereits bekannt sein. Darin ließ Jamison 2018 auf mehr als 600 Seiten tief in ihre eigene und inzwischen überwundene Alkohol- und Drogensucht blicken. Sich selbst macht Jamison (38) aber auch in den neuen Essays immer wieder zum Thema. Oder anders gesagt: Sich selbst zum Durchlauferhitzer für Fragen, die sich einem stellen können, einfach indem man in der Welt ist.

In einem Flughafenshuttle begegnet sie bei einem Zwischenstopp etwa einer bald ziemlich nervigen Frau, die Hilfe braucht, weil sie hinkt. Als sie ihren Namen googelt, kommt Jamison drauf, dass diese Frau vor Jahren Opfer eines Messerattentats war. Auch wenn sie nun andere anherrscht, gibt ihr das nicht eine Legitimation?

Doch dann erfährt Jamison, dass das aktuelle Hinken der Fremden nicht von damals herrührt, sondern davon kommt, dass sie im Urlaub in Mexiko zu viel getanzt hat. Ist ihr trotzdem realer Schmerz nun weniger wert? Jamison fühlt sich jedenfalls kurz betrogen.

Und kommt dann doch zum Schluss: "Manchmal braucht ein Mensch Hilfe, weil er sie braucht, nicht weil seine Geschichte überzeugend oder edel oder originell genug ist, um sie zu verdienen."

Beobachtungsgabe

Jamison beobachtet und befragt sich und andere, und es ist eine anregende Freude, ihr dabei zu folgen. "Verlangen war etwas weniger peinlich, wenn ich mir die Dinge, nach denen ich Verlangen hatte, versagte", schreibt sie in einem Essay über ihre Magersucht, von der sie durch ihre Schwangerschaft geheilt wurde: "eine Frau, die ihren Körper nicht zerstörte, sondern nährte, um einen weiteren Körper zu erschaffen, den sie hegen und pflegen würde".

Sie erinnert sich daran, wie sie sich als Kind ausmalte, wie einsam ihr Vater nach der Trennung von ihrer Mutter sein würde. Als er wieder heiratete und sie erkannte, dass sie nur ihre eigene Einsamkeit auf ihn projiziert hatte, während er glücklich weiterlebte, war sie verletzt. Als Stiefmutter eines kleinen Mädchens machte sie sich Gedanken über diese Rolle.

In vielen Essays reflektiert Jamison aber auch ihr Handwerk als Reporterin. Etwa wenn sie eine Reportage über eine Mutter autistischer Kinder und deren glamouröseren Auftritt im Internet noch einmal durchgeht. Jamison beginnt dabei über Privilegien, ihr eigenes gesundes und freies Leben nachzudenken. Oder sie porträtiert die Langzeitbeziehung einer amerikanischen Fotografin zu einer mexikanischen Familie und wägt professionelle Distanz und menschliche Involviertheit ab. Jamison lässt dann hinter die Kulissen ihrer Arbeit schauen, liefert Metaebenen zu ihren Artikeln für die New York Times oder The Atlantic.

Selbsthilfebuch

"Die Nostalgie räumt in den Zimmern der Erinnerung auf: Sie schüttelt die Betten auf, stellt Blumen auf die Kommode, öffnet die Vorhänge, um die Sonne hereinzulassen", versucht Jamison verflossener Liebe auf die Spur zu kommen. Bestechend klug und entwaffnend offen, zwischen diesen beiden Eigenschaften pendelt der Band. Er erinnert über Strecken an ein Selbsthilfebuch, analytisch im Zaum gehalten schadet so viel Gefühl aber nicht.

(Michael Wurmitzer, 7.8.2021)