Es geht um weit mehr als bloß um die Person Julian Assange. Am bedrückendsten wirken die Ausführungen Nils Melzers, des UN-Sonderberichterstatters für Folter, bisweilen gar nicht dort, wo er von der allerdings ohne Zweifel schrecklichen Lage des Australiers selbst spricht. Es ist vor allem auch das Drumherum, das der Schweizer in eingängigen, prägnanten Sätzen charakterisiert, wann immer er sich zu dem Fall äußert, und es sind seine eindringlichen, wiederholten Mahnungen, dass unser ganzes rechtsstaatliches System in Gefahr ist, was einem ganz ernsthaft zu denken geben sollte.

„Unser“ heißt: das des Westens, jener politischen Region der Welt, die zumindest von sich behauptet, dass sie doch die Hüterin der Rechtstaatlichkeit, der Menschenrechte, der Demokratie und nicht zuletzt der freien Presse wäre, und dieses Selbstverständnis auch immer gerne vor sich herträgt.

Aber dieses System droht an allen Fronten zu versagen, und das gerade in einem entscheidenden historischen Augenblick, in dem Augenblick, in dem sich zeigen sollte, ob es überhaupt etwas taugt. Wenn das nicht der Fall ist, wird das nicht bloß Folgen für den Wikileaks-Gründer haben. Sondern, und das ist Melzers eindringliche und mittlerweile in zahlreichen Interviews von ihm wiederholte Warnung, für uns alle.

Ein Buch als ein Akt der Verzweiflung

In Erinnerung ist in diesem Zusammenhang vielleicht einigen aufmerksameren Beobachtern des Geschehens noch ein Text des UN-Sonderbeauftragten, den er bereits im Juni 2019 ins Internet stellte. Die erschütternde Begründung dafür war erst am Ende des Eintrags zu lesen: Er hatte den Artikel, der von den schweren Menschenrechtsverletzungen, systematischer Folter und rechtswidrigen Intrigen im Fall Assange berichtet, einer ganzen Reihe von renommierten internationalen Leitmedien angeboten. Aber sie alle ohne Ausnahme hatten die Veröffentlichung schlichtweg abgelehnt. Offenkundig wollte sich niemand die Finger daran verbrennen. Die Publikation in einer Blognische war nichts anderes als ein Akt der Verzweiflung gewesen.

Demonstranten fordern Assanges Freilassung.
Foto: AP Photo/Kirsty Wigglesworth

Allerdings: Der rechtschaffene Schweizer ließ sich nicht mundtot machen. Es ist insbesondere seinem hartnäckigen Einsatz zu verdanken, dass die Diskussion um Assange nie zur Ruhe gekommen ist und nun, nach fast zwei Jahren, doch allmählich eine leichte Wende erfahren hat, zumindest im deutschsprachigen Raum. Melzers Stellungnahmen kursieren nicht mehr bloß in den sozialen Medien, sondern gelangen bis in die Hauptnachrichten. Und: Er hat ein Buch über den Fall verfasst, ein Buch, von dem zwar nicht alle Welt spricht, aber das doch in der öffentlichen Wahrnehmung präsent ist. Sein Titel: "Der Fall Julian Assange. Geschichte einer Verfolgung". 

Ab und zu redet man auch wieder vom Collateral-Murder-Video, von ungeahndeten amerikanischen Kriegsverbrechen, von Gräueltaten der US-Armee in Afghanistan. Von Vorfällen, die ohne die unermüdliche Arbeit des UN-Sonderbeauftragten möglicherweise gar kein Thema mehr wären.

Das ist ein schöner Erfolg. Und dennoch: Wie sich zeigt, scheint sich in grundlegender Hinsicht nichts geändert zu haben. Als im Verlauf der in Zusammenarbeit mit dem Österreichischen Journalist*innen Club, kurz ÖJC, am 19. April veranstalteten offiziellen Online-Buchpräsentation eine entsprechende Frage an den UN-Sonderbeauftragten gestellt wird, räumt Melzer ein: Ja, letztlich hat er dieses Buch aus Verzweiflung geschrieben. Deswegen, weil er anders nicht mehr weiterkam, weil er nach wie vor gegen Mauern rennt.

Die herkömmlichen Wege funktionieren einfach nicht. Jene Wege, die ihm kraft seines diplomatischen Amtes zugänglich sind und die eigentlich funktionieren sollten, wenn alles mit rechten Dingen zugehen würde — das heißt, wenn das rechtstaatliche System der westlichen Demokratien so arbeiten würde, wie es das in der Theorie eigentlich tun sollte.  

Österreichischer Journalist*innen Club

Was ein UN-Sonderberichterstatter in der hohen Politik wert ist

Systematisch wurde und wird der Schweizer immer noch abgeblockt, wenn er versucht, das Augenmerk auf den Fall Assange zu lenken. Ein besonders pikantes Beispiel, das er erzählt: Er gibt der BBC ein Interview. Das geht zwar live auf Sendung, danach aber wird es sofort vom Netz genommen, keine Spur mehr ist davon auffindbar. Ein ungewöhnlicher Vorgang. Als er sich deswegen an die Verantwortlichen wendet, wird er mit Floskeln unsinnigen Inhalts abgespeist. Tatsächlich, so muss er annehmen, war es dem alteingesessenen britischen Sender wohl zu heikel, ein Video zu verbreiten, in dem ein UN-Sonderberichterstatter höchstpersönlich England systematische schwere Verbrechen gegen die Menschenrechte, ja, Folter vorwirft und die Unabhängigkeit der dortigen Justiz in Frage stellt.

Mit Floskeln kennt sich Melzer allerdings inzwischen gut aus. Mit Floskeln wird er seit zwei Jahren auch regelmäßig von denjenigen Behörden, Gerichten und Institutionen abgespeist, die eigentlich für die Wahrung von Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten zuständig sein sollten, und gleichfalls von der hohen Politik, wenn er im Fall Assange so zu intervenieren versucht, wie er das als UN-Sonderberichterstatter für seine Aufgabe erachtet. Es ist die systematische Verweigerung jeder Kooperation, mit der er sich seit zwei Jahren konfrontiert ist, durch die er sich zur Veröffentlichung des Buches gezwungen sah.

Kein Wunder, dass Melzer darin auch von einer persönlichen Krise spricht. Von einer Krise, in die er geriet, als er feststellen musste, dass die Instrumentarien zur Wahrung der Rechtsstaatlichkeit nicht so funktionieren, wie sie funktionieren sollten, und dass man sogar den Staaten des Westens plötzlich nicht mehr trauen kann, dass man auch hier nicht vor Akten vollkommener, absurder Willkür gefeit ist.

Das betrifft nicht etwa nur Großbritannien, genauso natürlich die Vereinigten Staaten, aber auch Ecuador, Schweden und sogar das Auswärtige Amt in Deutschland, das er gleichfalls auf die krassen Umstände des Falls Assange aufmerksam machte. Von ihnen allen wird er systematisch mit Phrasen abgeschmettert, anstatt dass auf die Fakten, die er vorlegt, eingegangen wird. Oder er wird überhaupt ignoriert. Und daran hat sich bis jetzt nichts geändert. Darum das Buch.

Medienversagen

Gleichzeitig ortet der Schweizer aber auch ein Versagen des traditionellen Journalismus, der offenbar nicht mehr auf ausreichende Weise in der Lage ist, das Tun der Mächtigen auf diesem Planeten zu kontrollieren.

Melzer ist klug genug, um eine solche Konstruktion wie Wikileaks als eine Antwort auf diese Unzulänglichkeit der herkömmlichen Medien zu verstehen, das heißt als eine Art „Überdruckventil“, wie er es selbst nennt. Diejenigen, die über Missstände, Korruption, über politische und militärische Verbrechen Bescheid wussten und entsprechende Beweise und Dokumente vorlegen konnten, sonst aber keine Wege fanden, um das publik zu machen, bekamen nun eine Möglichkeit. Darin besteht das „Whistleblowertum“.

Um das Problem zu demonstrieren, kann ich zur Probe an das Publikum im STANDARD-Forum einmal eine ehrliche Frage stellen: Was wissen wir alle eigentlich beispielsweise vom Krieg in Afghanistan und im Irak? Was wissen wir wirklich davon, was die Armeen der USA und ihrer Bündnispartner, was ihre Soldaten und Geheimdienste auf dem Planeten alles tun, mit welchen Einsätzen wo und wie sie gerade beschäftigt sind, was sie Tag für Tag machen, vielleicht jetzt gerade, wo Sie meinen Text lesen?

Wenn wir darüber in aller Ehrlichkeit nachdenken, dann müssen wir uns eingestehen: im Grunde jämmerlich wenig. Über jeden Klatsch zum britischen Königshaus erfahren wir mehr, da werden wir in allen Details zugeschüttet. Jede schöne Phrase, die US-Präsident Joe Biden bei einer Rede von sich gibt, wird millionenfach kopiert und weiterverbreitet. Von der Politik lernen wir immer nur die Fassade kennen. Von wirklich wesentlichen Dingen aber haben wir oft nur ein sehr grobes, verschwommenes Wissen. Und das ist kein Zufall, die sind unter Verschluss.

Was hören wir von den Kriegsfronten? Ab und zu in den Nachrichten zwei, drei sehr allgemein gehaltene Absätze. Sollte uns das nicht auffallen und zu denken geben?

Wikileaks hat genau das durchbrochen. Und es geht dabei bei weitem nicht bloß um das Collateral-Murder-Video, das in diesem Zusammenhang immer erwähnt wird. Melzer weist in seinem Buch eigens darauf hin, dass Aussagen von Veteranen zufolge solche von US-Soldaten willkürlich verübten Massaker keineswegs eine Ausnahme darstellten, sondern an der Tagesordnung waren. Von einem Einzelfall kann demnach keine Rede sein. Wikileaks aber hat auf einmal genau diesen brutalen Kriegsalltag an die westliche Öffentlichkeit gebracht. Erstmals bekamen wir ein halbwegs realistisches Bild von dem, was da in diesen fernen Ländern wirklich alles passierte.

Schweden und die US-Geheimdienste

Und genau das durfte nicht geschehen. Wir hatten von Dingen erfahren, von denen wir niemals etwas erfahren hätten sollen. Es ist auch alles andere als ein Zufall, dass es zum Vergewaltigungsvorwurf gegen Assange gerade zu dem Zeitpunkt kam, als Wikileaks soeben in Zusammenarbeit mit großen Medienhäusern das "Afghan War Diary" publiziert hatte und noch weitere Veröffentlichungen vorbereitete. Melzer legt in seinem Buch dar, wie das Handeln der schwedischen Behörden eine Reaktion auf genau diese Situation war.

Man darf an dieser Stelle nicht in den Fehler verfallen, die willige Zusammenarbeit der schwedischen Behörden mit dem amerikanischen Geheimdienst zu unterschätzen. Melzer erinnert daran, dass Schweden auch schon mal zwei ägyptische Asylwerber ohne jedes rechtsstaatliche Verfahren der CIA übergeben hatte. In der Folge wurden sie in ihr Heimatland verschleppt und dort gefoltert. Es handelt sich hier also um eine ungeheuer enge und hörige Partnerschaft. Sobald Assange Schweden betrat, wurde er als Staatsfeind betrachtet und buchstäblich jeder Schritt von ihm wurde überwacht.

Erst vor diesem Hintergrund ist verstehbar, was alles in der Folge geschehen ist. Freilich war nichts davon in der Form im Vorhinein geplant. Aber als dann zwei Frauen zur Polizei gingen und eigentlich ein ganz anderes Anliegen hatten als den Wikileaks-Gründer wegen Vergewaltigung anzuzeigen, bot sich plötzlich eine günstige Gelegenheit.

Auch an dieser Stelle muss man einmal mehr auf die Mitverantwortung der Medien hinweisen. Die Presse war gut darin, das ihr von den schwedischen Behörden — bei Verstoß gegen alle diesbezüglichen Vorschriften und noch bevor überhaupt irgendeine Anzeige vorlag — sofort zugespielte Vergewaltigungsnarrativ gierig aufzusaugen und in Windeseile um den ganzen Erdball zu verbreiten.

Keiner dieser Reporter aber hat sich offenbar die Mühe genommen, zu recherchieren, was eigentlich die Grundlage dieser Meldungen war. Allein, dass nach vielen Jahren ein UN-Sonderbeauftragter offenbar der Erste war, der sich die Akten überhaupt ansah und ihren Inhalt überprüfte, ist schon ein Skandal für sich und ein Armutszeugnis für den Journalismus.

Das Narrativ des flüchtigen Vergewaltigers

Melzer ist kein naiver Assange-Fan. Gerade in dem Abschnitt des Buches, das den Vergewaltigungsvorwurf abhandelt, zeigt sich seine Objektivität und Unparteilichkeit. Er beschönigt nichts. Dass der Wikileaks-Gründer sich den beiden Frauen gegenüber auf eine Art und Weise verhalten hatte, die nicht in Ordnung war, lässt er klar hervortreten. Und dennoch: Für eine Anklage hätte es nie gereicht, und das wussten alle darin involvierten Amtsträger von Anfang an.

Akribisch zeichnet der Schweizer die schier unzähligen Rechtsverstöße und Intrigen nach, mittels derer Assange der Verfolgung ausgesetzt wurde. Nur mit viel Mühe und auch mithilfe gefälschter Unterlagen gelang es der Staatsanwältin Marianne Ny überhaupt, das Verfahren, das anfangs sehr rasch eingestellt worden war, wieder zum Leben zu erwecken und dann über Jahre lang in der Schwebe zu halten.  

Unwahr ist auch das von ihr in Umlauf gesetzte Narrativ, Assange hätte sich der Justiz des Landes entzogen, er sei ein Flüchtiger. Ganz im Gegenteil, er blieb des Verfahrens wegen eigens in Schweden, einen ganzen Monat länger, als er ursprünglich vorgehabt hatte, und stellte sich vollständig zur Verfügung, auch dann, als das immer schwieriger für ihn wurde — unter anderem deswegen, weil seine Aufenthaltserlaubnis ablief und ihm auf Druck der USA sämtliche Kreditkarten gesperrt worden waren. Als es aber zu spät war, als er endlich abfliegen musste, gerade in diesem Moment, als er schon am Flughafen war, da erlässt Ny ganz plötzlich einen Haftbefehl. Es ging dabei auch gar nicht darum, Assange zu verhaften und die Vergewaltigungsvorwürfe aufzuklären, sondern, so Melzer, „darum, das Narrativ eines flüchtigen Sexualverbrechers zu perpetuieren“.

Vieles andere fügt sich hinzu: Ny erlässt einen Europäischen Haftbefehl, obwohl das nicht einmal in ihre Zuständigkeit als Staatsanwältin fällt und überdies gegen alle rechtlichen Gepflogenheiten verstößt, solange keine Anklage erhoben worden ist. Mit was für absurden juristischen Winkelzügen die britische Justiz das Gesuch trotzdem als legal anerkannt und alle Einsprüche der Anwälte Assanges abwehrt, lässt einen mit den Ohren schlackern, und schon deswegen ist das Buch des UN-Sonderbeauftragten der Lektüre wert.

Die Rolle Ecuadors

Mit gleicher Blauäugigkeit wie das Vergewaltigungsnarrativ wurde auch anderes im öffentlichen Diskurs weitergetragen, ohne dass man sich je die Mühe machte, den Wahrheitsgehalt zu überprüfen. Etwa die von den ecuadorianischen Behörden später gezielt in Umlauf gesetzten Vorwürfe, Assange hätte während seines Asyls in der Botschaft des Landes Fußball gespielt, seine Katze gequält und die Wände mit Exkrementen beschmiert. Melzer weist darauf hin, dass für all das kein einziger Beweis existiert, keine Videoaufzeichnung, und das, obwohl jede Bewegung Assanges rund um die Uhr von Kameras aufgezeichnet wurde, sogar auf der Toilette.

Selbst jenes Video, das angeblich belegen soll, er wäre in der Botschaft wild Skateboard gefahren, zeigt bei näherem Hinsehen etwas ganz anderes. Assange kann nicht einmal das Gleichgewicht auf dem ruhenden Brett halten. Das geübte Auge des UN-Sonderberichterstatters, der schon vielen Folteropfern von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden ist, erkennt sofort, was hier Sache ist. Im gesamten Erscheinungsbild des Australiers drückt sich, so Melzer, eine Symptomatik aus, ein körperlicher und seelischer Verfall, wie er charakteristisch für Personen ist, die grausamer, unmenschlicher Behandlung ausgesetzt sind.

Haben Sie überdies schon einmal darüber nachgedacht, warum Assange derart verwahrlost und um Jahre gealtert wirkte, mit langen, verfilzten Haaren und einem dichten, ungepflegten Vollbart, als er am 11. April 2019 schließlich von der Polizei aus der ecuadorianischen Botschaft gezerrt wurde? Nun, die Antwort ist viel perfider, als Sie es sich vermutlich träumen haben lassen. Drei Monate vor seiner Verhaftung hatte man ihm sein Rasierzeug weggenommen — eine der unzähligen Schikanen, denen Assange ausgesetzt worden war.

Die unwürdige Erscheinung des Australiers war ganz bewusst inszeniert worden, passte sie doch zu dem Narrativ des „Monsters“ Assange, das man nähren wollte. Je unsympathischer, abstoßender und lächerlicher er bei seiner Verhaftung aussah, desto besser. Dass der ganze Vorgang sowieso illegal war, weil man ihm Asyl und ecuadorianische Staatsbürgerschaft ohne irgendein rechtsstaatliches Verfahren entzogen hatte, kommt noch hinzu.

Politische Verfolgung und Folter

Ein grundlegendes Problem, mit dem Melzer sich bei seinen Enthüllungen immer wieder konfrontiert sieht, besteht jedoch darin, dass im öffentlichen Diskurs nach wie vor eine altertümliche Vorstellung von Folter vorherrscht. Solange wir keine Streckbank vor uns sehen, oder die Peitsche, wollen wir nicht glauben, dass da jemand gefoltert wird. Darum fällt es uns so schwer zu glauben, dass Assange in der ecuadorianischen Botschaft in London gefoltert wurde und dass er im britischen Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh, in dem er seit dem 11. April 2019 verwahrt ist, nach wie vor gefoltert wird. Blutige Striemen sieht man ja an ihm nirgends. Ist es so schlimm, wenn jemandem das Rasierzeug weggenommen wird?

Wiederholt weist der UN-Sonderbotschafter darum darauf hin, dass heutzutage eben ganz anders als früher gefoltert wird, auf eine Art und Weise, die nach Möglichkeit keine unmittelbaren körperlichen Spuren hinterlässt. Man darf allerdings nicht dem Irrtum verfallen, dass die Folgen für die Opfer auf Dauer weniger gravierend wären.

Zu den zeitgemäßen Foltermethoden — die durchaus auch in westlichen Demokratien angewandt werden — zählen etwa die vollkommene Isolierung einer Person, die völlige Einengung ihres Lebensraumes, alle möglichen Strategien der Verächtlichmachung und der Herabsetzung, das Installieren eines fortwährendes Bedrohungsszenarios sowie die Herstellung von Situationen vollkommenen Ausgeliefertseins und der Wehrlosigkeit. Schließlich, und davon machten die Ecuadorianer ausgiebigen Gebrauch, ein tyrannisches System aus Vorschriften, das immer engmaschiger gestrickt und endlich in sich so widersprüchlich wurde, dass es dem Australier gar nicht mehr möglich war, sich daran zu halten. Was er auch tat, war falsch, wurde ihm vorgeworfen.

Dass es aber den englischen wie schwedischen Behörden nie um eine Aufklärung des Vergewaltigungsvorwurfes gegangen war, sondern es sich von Anfang an um eine politische Verfolgung handelte, macht unter anderem folgender unglaublicher Vorfall deutlich, von dem man in Melzers Buch liest: Bald nachdem Assange in die ecuadorianische Botschaft geflüchtet war, ließ der britische Außenminister William Hague der Regierung des südamerikanischen Landes eine Nachricht zukommen, die, diplomatisch kodiert, mit der Erstürmung des Gebäudes drohte. Eine derartige Geste wegen eines Verdächtigen im Zuge einer bloßen Voruntersuchung, noch dazu eines anderen Landes (Schwedens)? Wer soll das glauben?

Fraktion DIE LINKE. im Bundestag

Resümee

Einzelne Abschnitte des Buches stellen aufgrund ihres Detailreichtums und der damit verbundenen Langatmigkeit eine Herausforderung für die Lektüre dar. Bisweilen fühlt man sich in der Fülle von Informationen untergehen. Und gerade dort, wo es um die Intimitäten zwischen Assange und den beiden Frauen geht, fragt man sich gelegentlich: Will ich das alles eigentlich so genau wissen? Immer wieder allerdings macht Melzer den Zusammenhang der vielen Einzelheiten mit dem großen Ganzen deutlich. Und für eine juristische Beurteilung sind nun einmal oft auch sogenannte Kleinigkeiten von entscheidender Bedeutung. All die Puzzleteilchen können zwischendurch verwirrend sein, aber es ist ein Detektivspiel. Ein Detektivspiel, das insofern von herausragender Bedeutung ist, als völlig falsche Darstellungen von Hergang und Ablauf der Ereignisse nach wie vor die öffentliche Meinung dominieren.

Es ist von ungeheurer Wichtigkeit, dass hier einer einmal die Fakten zum Fall Assange mit einer derartigen Gründlichkeit zusammengetragen und an die Öffentlichkeit gebracht hat. Das Buch des Schweizers ist damit auch ein notwendiges Gegenprojekt zu den verkürzten, vieles allzu sehr vereinfachenden und letztlich dadurch verfälschenden Darstellungen, die immer noch im Umlauf sind, und ganz allgemein zu der Oberflächlichkeit, die in der Medien- und Meinungsmacherwelt leider vorherrscht. 

Wer sich dafür Zeit und Geduld nimmt, wird reich belohnt. Obwohl ich mich auch vorher schon intensiv mit dem Fall Assange beschäftigt habe, kann ich erst nach der Lektüre dieses Buchs sagen, dass ich ein klares Verständnis von der ganzen Angelegenheit bekommen habe. Jeder kann selbst entscheiden. Wer weiterhin aufs bloße Hörensagen vertrauen will, der soll das tun. Wer aber wirklich Bescheid wissen will, der sollte dieses Buch lesen. (Ortwin Rosner, 7.5.2021)

Literaturhinweis

Nils Melzer, Oliver Kobold: "Der Fall Julian Assange. Geschichte einer Verfolgung". Piper, München 2021.

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