Wien – Auf den ersten Blick sehen sie aus wie eine ganz normale Touristengruppe, die rund 80 Senioren, die hier im dritten Wiener Bezirk aus drei Reisebussen steigen – viele mit Gehstöcken oder Rollatoren. Sie lesen Informationstafeln, schießen Fotos, lauschen der Fremdenführerin. Tatsächlich sind es Gäste aus Israel, zu Besuch in Österreich. Dem Land, in dem sie geboren wurden. Nur hierbleiben konnten sie nicht. Es sind Überlebende der Shoah, der systematischen Ermordung von rund sechs Millionen Jüdinnen und Juden durch das nationalsozialistische Regime.

Unterwegs im Bus, eine Reisegruppe, nur ganz anders.
Foto: robert newald

Der erste Blick könnte den Beobachter täuschen, wären da nicht die Kamerateams und die Fotografen um die scheinbar gewöhnliche Touristengruppe herum – und wäre da nicht die erste Station ihrer Stadtführung, das Mahnmal Aspangbahnhof. Das 2017 eröffnete Werk soll an jene rund 47.000 Menschen erinnern, die an genau dieser Stelle in Ghettos und Vernichtungslager abtransportiert wurden. Das Kunstwerk aus Beton, entworfen vom Künstlerduo Prinzpod, zeigt zwei zusammenlaufende Schienen, die in einen hohlen Betonblock, in die Dunkelheit, führen.

Im Resselpark verprügelt

Robert Hochstadter findet es ein bisschen mickrig – "ärmlich", um es in seinen Worten zu sagen. Zumindest im Vergleich zum Gegenstück in Berlin, dem Mahnmal "Gleis 17" am dortigen Bahnhof Grunewald, das sei eindrucksvoller. Seine 95 Jahre sieht man Hochstadter nicht an. Er spaziert ohne Gehhilfe durch seine einstige Heimatstadt, mit buntem Poloshirt und hellem Blick.

Den um sich greifenden Antisemitismus bekam Hochstadters Familie schon früh zu spüren, Auslöser für die Flucht war aber ein Angriff im Resselpark, wo er als Kind "blutig geschlagen" wurde. 1935 sei sein Vater mit ihm geflohen, noch vor dem "Anschluss", vor den Novemberpogromen. "Zum Glück", sagt Hochstadter zum STANDARD. Das Ziel war das damalige Palästina ("Mein Vater war schon immer Zionist"). Heute lebt Hochstadter in Israel.

as Mahnmal Aspangbahnhof zeigt zwei zusammenlaufende Schienen, die in einen hohlen Betonblock führen.
Foto: robert newald

Wien hat er nach dem Krieg schon "einige Male" besucht, aber noch nie auf Einladung des Bundeskanzlers. Sebastian Kurz und Bildungsminister Heinz Faßmann (beide ÖVP) besuchten Jerusalem im Juni – ohne den dort offiziell nicht gern gesehenen Regierungspartner FPÖ. Sie trafen Überlebende der Shoah, die in Österreich geboren wurden, und baten sie für eine Woche in die alte Heimat. Hier sind die Besucher in die Gedenkfeierlichkeiten in Erinnerung an die Novemberpogrome vor 80 Jahren eingebunden, werden im Stadttempel empfangen und sind auch zum Staatsakt anlässlich des Republikjubiläums am Montag in die Staatsoper eingeladen.

Zwischen Diaspora und alter Heimat

Zuvor geht es am Mittwoch für die Überlebenden und ihre Begleiter aber zurück in den Reisebus in Richtung des zweiten Bezirks: zum Mittagessen ins Maimonides-Zentrum, das Seniorenheim der Israelitischen Kultusgemeinde.

Als Beispiel einer Brücke zwischen Diaspora und alter Heimat bezeichnete Maimonides-Leiter Micha Kaufman sich selbst und die Gäste aus Israel in seiner Rede: die Überlebenden, die, wenn auch nur für eine Woche, in ihre alte Heimat zurückgekehrt sind; und er selbst, der erst vor einigen Jahren aus seinem Geburtsland Israel nach Österreich gekommen ist. Das Land biete Juden heute – auch dank der persönlich ausgesprochenen Garantie des Kanzlers – ein "angenehmes, ruhiges und sicheres Leben", sagt Kaufman.

Das Denkmal im dritten Bezirk soll an jene rund 47.000 Menschen erinnern, die an dieser Stelle in Ghettos und Vernichtungslager abtransportiert wurden.
Foto: robert newald

Sicherheit und ihr Preis

Nach Jahrtausenden der Verfolgung und aktuellen antisemitischen Anschlägen auch in Europa bleibt Sicherheit allerdings ein bedeutendes Thema für die jüdische Gemeinde – das zeigt sich auch an den Vorkehrungen, die das Seniorenheim in Wien treffen muss: Das einladende Foyer erreicht erst, wer Sicherheitsschleusen beim Eingang inklusive Metalldetektor und Taschenkontrolle erfolgreich hinter sich gebracht hat.

Schon 1925, erzählt Robert Hochstadter, sind seine Eltern von jungen Nationalsozialisten aus einem deutschen Dorf vertrieben worden, in dem sie sich zur Sommerfrische aufgehalten hatten – also schon lange vor der politischen "Machtergreifung" der Nazis. Was bedeutet das für "Niemals wieder!", was heißt es für "Wehret den Anfängen!"? Hochstadter denkt nach. "Antisemitismus wird es immer geben", sagt er dann. Kein Appell, keine Lösung. Die müssen andere finden. (Sebastian Fellner, 7.11.2018)