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"Es gibt da eine gewisse Ambivalenz, die ich produziere, das ist mir klar." Er klingt gelegentlich wie ein linker Sozialdemokrat, dann wieder wie ein rechter Sozialdemokrat, ein anderes Mal wie einer der Mitte.

Der Bürotower am neuen Wiener Hauptbahnhof, 22. Stock. Es ist ein spektakulärer Kampf um das Kanzleramt, der am 12. Mai 2016 sein Ende findet. Im Büro des bisherigen Bahnchefs versammeln sich Freunde, langjährige Wegbegleiter, Mitarbeiter und Vertraute – oder Leute, die es demnächst werden sollen. "Gratulation, Herr Bundeskanzler", sagt einer. Christian Kern setzt sein typisches ironisches Lächeln auf, das wohl so etwas sagen soll, wie: "Spar dir die Scherze, bevor es unwiderruflich entschieden ist."

Ein schnell zusammentelefonierter Haufen trifft sich an diesem Tag in Kerns Vorstandsbüro, dazu Kerns bisherige ÖBB-Vorstandsassistentin, die 30-jährige Maria Maltschnig.

Was Kern dann der Runde eröffnete, hat selbst die Anwesenden ein wenig überrascht: dass er ein Signal radikaler Erneuerung senden will – und zwar vom ersten Tag an. "Grundsätze gehen vor Machterhalt", das sei doch eine Botschaft, nach der sich die Menschen sehnen würden, so Kern. Er habe keinesfalls vor, sich als jemand zu präsentieren, der die Sozialdemokratie zu einer bloß modisch aufpolierten Spielart der neoliberalen Mitte machen wolle. "Modernisierung nur um der Modernisierung willen ist Blairismus, und das braucht heute niemand mehr", wirft Kern in die verdutzte Runde.

"Ich kann doch diesen ganzen Politjargon, diese Aneinanderreihung leerer Worthülsen genauso nicht mehr hören wie die meisten Wähler. Und ich werde das bei meinen ersten Auftritten auch klar sagen."

"Okay", wirft da einer der Anwesenden erschrocken ein: "Ich stelle mir das also jetzt einmal so vor: Du bist im Parlament, hältst deine erste Rede als Bundeskanzler, neben dir sitzt Reinhold Mitterlehner, und du sagst: ,Alles, was ihr bisher getan habt, war Unfug'? Das kannst du doch nicht machen." Kern erwidert: "Ich werde mit Mitterlehner vorher reden. Aber da geht es auch um meine Glaubwürdigkeit."

Während Kern mit den wichtigsten Leuten aus der Partei die Regierungsmannschaft diskutiert, kümmert sich Maltschnig um das künftige Kanzleramt, und eine kleine Arbeitsgruppe sammelt hunderte Ideen und Konzepte für ein Regierungsprogramm. "Ich kam in den letzten Tagen leider nicht zum Einkaufen", entschuldigt sich der Noch-nicht-Kanzler lachend, als er am Sonntag bei sich zu Hause die verschiedenen Konzeptvorschläge durchgeht. Die Schwiegermutter, die in diesen hektischen Tagen ein wenig auf Kerns jüngste Tochter und deren Freundinnen aufpasst, geht mit den Kindern zum Pizzabäcker um die Ecke, um ein paar Pizzen kaufen. So sitzt die Runde dann um den großen Holztisch in Kerns Wohnzimmer, isst Pizza aus Kartons, will die Textentwürfe ausdrucken – und kommt drauf, dass gerade niemand einen funktionstüchtigen Drucker besitzt.

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Simmering, Kaiser-Ebersdorfer-Straße. Hier ist Christian Kern in den Sechziger- und Siebzigerjahren aufgewachsen, in einem schmucklosen Neubau. Es ist bis heute eine seltsame Wohngegend. Neue Häuser, Gemeindebauten und vorstädtische, fast dörfliche, einstöckige Häuser, sind ohne jeden Plan nebeneinander gewachsen. Eine Ecke weiter, in der Florian-Hedorfer-Straße, geht Kern in die Volksschule. Über dem Bezirk hängen oft die stinkenden Schwefelwolken der Raffinerie der ÖMV. "Mein Vater hat Elektriker gelernt, meine Mutter hat eine Handelsschule besucht", erzählt Kern. "Mein Vater hat Waschmaschinen verkauft und repariert und ist durch ganz Österreich getingelt. Meine Mutter war Sekretärin, bei SKF und bei Nivea. Dann haben sie ihr eigenes Geschäft gegründet, ein Milchgeschäft im zehnten Bezirk. Das haben sie gemeinsam geführt. Danach hat mein Vater eine Taxilizenz erworben und ist Taxi gefahren."

Hinter dem Haus spielen die Buben auf einer Wiese Fußball – eine Gstätten, wie man in Wien sagte, die der Hausmeister gelegentlich mähte. Es ist keine klassische sozialdemokratische Familie, in die Kern hineingeboren wird. "Meine Eltern waren nicht zwingend SPÖ-Wähler." Es ist eher eine Welt der Gleichheit und Gemeinschaftlichkeit, die so etwas wie implizite politische Grundhaltungen transportiert. In Kerns Familie war es die Mutter, erzählt er, "die eine starke soziale Ader gehabt und alte Leute aus der Gegend zum Kaffee oder zum Essen eingeladen hat. Ich werde nie den Herrn Vitasek vergessen, der hat immer die A3-Zigaretten geraucht und davon ganz braune Fingernägel gehabt. Das war ein lieber älterer, verwitweter Herr, den meine Mama immer wieder eingeladen hat – und andere Leute auch."

Reich ist die Familie nie. "Es gab zwar nicht viel Geld, aber im Übermaß liebevolle Behandlung der Kinder." Erst als er im Gymnasium als eines von zwei Kindern aus der Klasse finanzielle Unterstützung beantragen muss, um auf den Schulskikurs mitfahren zu können, "ist mir erstmals aufgefallen, dass wir nicht zu den besser Ausgestatteten zählen".

"War das peinlich?", frage ich nach. "Na ja, ich hab bemerkt, das ist anders als bei den anderen. Es muss mich schon irgendwie berührt haben."

Seine Teenagerjahre verbringt Kern im Gymnasium Gottschalkgasse. Christian Kerns engster Freundeskreis in der Oberstufe empfindet sich als "anarchistisches Basiskomitee – im Rückblick ein kurioser Spleen". Über einen linken Buchhändler kommen die jungen Leute in Kontakt mit rebellischen Ideen. Sie lesen Bakunin, Kropotkin und andere Urheber weltrevolutionärer Theorien: "Auch Walden von Henry David Thoreau haben wir damals gelesen, dieses berühmte, radikale, antiautoritäre Aussteigerbuch aus dem 19. Jahrhundert." Aber genauso wird Monat für Monat zum Rennbahn-Express gegriffen, der Jugendzeitung, die damals so etwas wie die Bravo für die an gesellschaftlichen Themen interessierten Teenager war. Die Teenager saugen all das ein – eher unsortiert und unsystematisch, aber doch konzise genug, um sich als entschiedene Weltverbesserer zu verstehen. "Es waren Jahre der Auflehnung." Die ersten Vorformen der späteren Grünen entstehen, und der junge Christian Kern ist als Gymnasiast einer der lokalen Protagonisten. Er wird Mitbegründer der Alternativen Liste Simmering.

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Seit einem Jahr ist Christian Kern jetzt Kanzler. Er ist von Leuten umgeben, die ihm unterschiedliche Ratschläge geben, aber er weiß auch insgeheim, dass von ihm eine Art Quadratur des Kreises verlangt wird. Einerseits muss er zeigen, dass er seine Partei modernisiert, aber zugleich darf er nicht primär als Parteimann erscheinen, sondern muss glaubwürdig der sein, der zuallererst Österreich voranbringen will. Außerdem muss Kern sich als Politiker gegen das System positionieren, als einer, der mit der Elitenpolitik aufräumt, die so viele Menschen satthaben. Zugleich muss er aber der breiten Mitte der Wähler das Sicherheitsgefühl geben, dass da einer ist, der die Dinge im Griff hat – und gleichzeitig seine linken Anhänger und potenziellen Aktivistenmilieus inspirieren. Er klingt nachdenklich, wenn er sagt: "Es gibt da eine gewisse Ambivalenz, die ich produziere, das ist mir klar." So klingt er gelegentlich wie ein linker Sozialdemokrat, dann wieder wie ein rechter Sozialdemokrat, ein anderes Mal wie einer der Mitte. Aber ist er einer, der driftet?

Schon im Herbst erhielt Kern eindeutige Daten der Demoskopen. Erstens: Die SPÖ ist unter seiner Führung wieder auf dem Sprung, Nummer eins in den Umfragen zu werden. Zweitens: Während die große Mehrheit der Befragten sich selbst als "politische Mitte" verortet, sehen sie die Sozialdemokratie und Kern selbst deutlich links von sich.

Eine der Aporien der zeitgenössischen Politik: Man muss sich natürlich Gedanken darüber machen, welche politischen Positionen mehrheitsfähig sind und welche nicht, aber zugleich darf man sich davon nicht so weit beeinflussen lassen – weil man dann aufhört, das zu sagen, was man wirklich denkt, sodass die Leute sich dann fragen: Wofür steht dieser Politiker eigentlich noch?

Es sind die ersten Frühlingstage 2017, in denen ich Kern diese Fragen an den Kopf werfe. Draußen strahlt die Sonne, aber Kern ist an diesem Tag nicht gut drauf, er spürt, dass das, was als sanfte Repositionierung begann, auf einer schiefen Ebene enden könnte. "Es gab sicher eine Neujustierung, was die Flüchtlingspolitik betrifft, das gebe ich zu, und das ist auch etwas, was mir nicht allzu viel Freude bereitet", sagt er. "Aber wenn man uns vorwirft, wir verfolgen eine strikte Anti-Migrations-Politik, um die Stimmen der FPÖ-Wähler zurückzuholen, dann stimmt das nicht. Erstens, weil das ohnehin nicht auf so simple, plumpe Weise funktionieren würde, zweitens, weil wir Sozialdemokraten das nicht durchhalten würden, und drittens, weil wir es auch gar nicht durchhalten würden wollen." (Robert Misik, 20.5.2017)