Neuerdings scheint es in der Politik nur noch zwei Gewissheiten zu geben: dass man nichts mit Sicherheit weiß und dass sogar das Undenkbare möglich ist. Noch vor einem Jahr schien ein Abschied der Briten aus der EU reichlich abstrus, hatten sie doch mit David Cameron einen proeuropäischen Premier, der nur wenige Monate zuvor einen fulminanten Wahlsieg hingelegt hatte. Und dennoch "passierte" das Brexit-Votum.

Dann wurde in den USA ein Mann zum Präsidenten gemacht, der alles auf den Kopf stellt, obwohl die Nation keinen gröberen Grund hatte, unzufrieden zu sein mit dem Kurs, den Barack Obama eingeschlagen hatte und den Hillary Clinton – im Wesentlichen zumindest – fortgesetzt hätte: niedrige Arbeitslosigkeit, Wirtschaftskrise überwunden. Und dennoch "passierte" Donald Trump.

Die Reißleine ziehen

Und jetzt: Frankreich. Da windet sich der erst vor wenigen Wochen bei der Vorwahl mit fulminantem Erfolg nominierte konservative Kandidat François Fillon, die Konsequenzen zu ziehen aus der Affäre um eine jahrelange Scheinbeschäftigung seiner Ehefrau. Auch wenn die Anschuldigungen völlig haltlos sein sollten – was sie wohl nicht sind: Fillon hätte längst die Reißleine ziehen müssen, um nach diesem Sturz noch einigermaßen sanft zu landen. Und zwar nicht nur in eigenem Interesse, sondern auch in jenem seiner Partei.

Fillons Gruppierung "Les Républicains" mag sich erst vor knapp zwei Jahren gegründet haben, aber vom Wesen her ist sie eine alte Partei, die die Bürde des Gaullismus mit sich herumträgt. Diese Tradition bringt es mit sich, dass Fillon – von der Mehrheit beauftragt, Präsident zu werden – nicht einfach so entmachtet werden kann, und sei die Lage noch so prekär. Nein, er muss selbst handeln und zurücktreten.

Der Realität ins Auge schauen

Nach langem Hin und Her, nach endlosem Negieren der Tatsachen und Hadern mit dem eigenen Ego und dem nun wohl unerreichbaren Lebensziel schien Fillon schon so weit einzusehen, dass ein Festhalten an der Kandidatur Frankreichs Konservative wohl in den Abgrund reißen würde.

"Ersatzmann" Alain Juppé, bei der Vorwahl unterlegen, hatte zwar signalisiert, die Kandidatur übernehmen zu wollen, aber nur, wenn er artig darum gebeten würde. Doch plötzlich macht auch er einen Rückzieher: Er hat – zweifellos richtig – erkannt, nicht als der Erneuerer angesehen zu werden, den die Wähler sich wünschen. Fillon, dem General, bleibt also nichts anderes übrig, als weiter in seinem Labyrinth zu wandeln (Copyright Gabriel García Márquez).

Leichen im Keller

Hat Fillon, haben die Republikaner also den letzten Moment zur Selbstrettung versäumt? Das ist gut möglich, ja, sogar wahrscheinlich. Hätte Fillon gar nicht erst antreten dürfen? Auch das muss man wohl bejahen. Wer, wenn nicht er selbst, wusste und weiß, welche Leichen er im Keller hat? Zu glauben, diese würden unentdeckt bleiben oder man könne sie als harmlose Nebensächlichkeiten abtun, grenzt an Naivität – zumindest heutzutage.

Wer wird also davon profitieren, denn irgendjemand muss und wird ja zum Staatsoberhaupt gewählt werden? Da es nach Juppés (möglicherweise definitiver, aber wer weiß das schon) Absage weit und breit keinen Konservativen mit Chancen geben dürfte, könnte es tatsächlich schon jetzt auf ein Duell Emmanuel Macron versus Marine Le Pen hinauslaufen. Ein populistisch-liberaler Einzelkämpfer mit eigener Bewegung der eine, eine demagogische Protestpolitikerin mit rechtem Hintergrund die andere.

Bis vor ein paar Wochen wäre eine solche Konstellation schier unvorstellbar gewesen. Doch die Fälle in Großbritannien und den USA haben schon bewiesen, dass die westlichen Demokratien im Umbruch sind und dass es nichts Undenkbares gibt, das nicht doch eintreten kann. Und möglicherweise wird Frankreich nicht das letzte Kapitel im Buch der politischen Überraschungen gewesen sein. Die Bundestagswahl in Deutschland steht ebenfalls vor der Tür. Alles ist möglich heutzutage ... (Gianluca Wallisch, 6.3.2017)