Didier Eribon: "Viele Menschen fühlen sich abgehängt und ausgeschlossen. Sie haben keinen Zugang zur Öffentlichkeit."

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Szene von einer Parteiversammlung des französischen Front National: Auf dem rechten Arm prangt Che Guevara, auf der Brust die – nicht zwangsläufig diplomatisch gemeinte – erste Zeile der Nationalhymne: Wie konnte das passieren?

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Didier Eribon ist ein vielbeschäftigter Mann. Er wird von Veranstaltung zu Veranstaltung gereicht, er liest in Paris, Berlin, Buenos Aires oder, wie vergangene Woche, erstmals auch in Wien, wo er im Bruno-Kreisky-Forum vor einem bis zum Bersten gefüllten Auditorium referierte.

Den durchgetakteten Stundenplan verdankt der 1953 geborene, an der Universität Amiens lehrende französische Soziologe einem einzigen Buch. Sein 2009 erschienener Erinnerungsband "Retour à Reims" wurde in Frankreich schlagartig zu einem Politklassiker, dessen Ruf sich inzwischen weit über die französischen Grenzen hinaus verbreitet hat.

Die im vergangenen Jahr bei Suhrkamp erschienene deutsche Übersetzung ("Rückkehr nach Reims") geriet ebenfalls zu einem kleinen Sensationsbestseller; für die Zeitschrift "Spex" war es das sechstwichtigste Buch des Jahres 2016, weit vor den jüngsten Werken solcher Schwergewichte wie Ian McEwan, Elena Ferrante oder Jonathan Franzen. "Es ist eine Geschichte", sagt der introvertiert-freundliche Eribon im Gespräch mit dem STANDARD, "in der sich viele wiedererkennen."

Doppelte Emanzipation

Die Geschichte, die Eribon erzählt, ist seine eigene. Es ist die Geschichte einer doppelten Emanzipation: die Geschichte der Emanzipation von seinem bitterarmen Herkunftsmilieu, einer Arbeiterfamilie in der nordostfranzösischen Provinz, und die Geschichte seiner Emanzipation hin zu einem selbstbewussten Umgang mit seiner Homosexualität, die sich in der drückenden Enge der "France profonde" als ein konstant belastendes und gelegentlich sogar lebensgefährliches Stigma erwies.

In seiner "Autoanalyse" (ein Begriff des französischen Soziologie-Gottes Pierre Bourdieu) lässt Eribon die komfortable Sphäre des wissenschaftlichen Elfenbeinturms hinter sich und begibt sich, ohne Rücksicht auf familiäre Intimitäten und ohne Scheu vor tabuloser Selbstbeobachtung, in seine zentnerschwer mit sozialer Gewalt, Scham- und Schuldgefühlen belastete Lebensgeschichte. Allein der Mut, mit dem sich Eribon diesem Unterfangen stellt, würde "Rückkehr nach Reims" zum Ausnahmebuch machen.

Arbeiterproteste gegen Sozialabbau: Eribon fordert eine Politik im Dienst der Armen und Entrechteten.
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Es ist aber viel mehr als "nur" ein mit dem geschulten Blick des Soziologen verfasster Bildungsroman, der die prägende Wucht einer desolaten Herkunft bloßlegt. "Rückkehr nach Reims" ist auch eine bittere Abrechnung mit der einst stolzen französischen Linken sowie eine Reflexion darüber, was auf der von ihr hinterlassenen Trümmerlandschaft neu gebaut werden müsste, damit wieder eine Politik im Dienst der Armen und Entrechteten entstehen kann. Ein französischer Rezensent schrieb: "Ein Buch, das sich mit vielen Brillen lesen lässt."

Mitschuld der Sozialdemokraten

"Sehen Sie sich die französische Landkarte an", sagt Eribon. "Der industrialisierte Norden, die Gegend um Lille, und Nordostfrankreich, das waren Hochburgen der Linken. Heute sind diese Gebiete fest in der Hand des Front National." Dieses Lied kennt man auch anderswo, nicht zuletzt in Österreich: Die Arbeiterschaft, oder das, was von ihr übrig blieb, hat ihre angestammte politische Heimat verlassen und ist in hellen Scharen zur populistischen Rechten übergelaufen.

Die Sozialdemokraten Europas hätten eine riesige Mitschuld am Aufstieg der Rechten. Natürlich spielten die Verwerfungen durch die Wirtschaftskrise eine Rolle. Das Problem sitze aber tiefer, sagt Eribon. "Viele Menschen fühlen sich abgehängt und ausgeschlossen. Nicht nur ökonomisch, sondern auch politisch. Sie haben keinen Zugang zur Öffentlichkeit, können sich keinen Ausdruck verschaffen."

Die Linke müsse sich endlich wieder der Probleme dieser Menschen annehmen. Stattdessen stelle sich ein Präsidentschaftskandidat Macron hin und behaupte, Frankreich leide an zu viel Égalité, an zu viel Gleichheit. "Das ist selbstmörderisch. Wenn Sie das den Abgehängten in der Banlieue erzählen, treiben Sie noch mehr Wähler zum Front National. Oder auf die Straßen, wo es noch mehr gewalttätige Ausschreitungen geben wird."

Emanzipation durch Bewusstwerdung und Bildung

Die Ursachen für die Entwicklungen in seinem Heimatland sieht Eribon tief in der Gesellschaft verankert. "Wenn Sie das französische Schulsystem ansehen, dann werden Sie feststellen, dass es nahtlos daraufhin ausgelegt ist, die Reproduktion der Bourgeoisie zu gewährleisten und alle anderen von den oberen Sphären der Gesellschaft auszuschließen." Ist nicht Eribon, immerhin Universitätsprofessor, ein Gegenbeispiel zu dieser These?

Dass ein Arbeiterkind wie er ein Gymnasium besuchen und an die Uni gehen könne, komme vor, konzediert Eribon. Emanzipation durch Bewusstwerdung und Bildung: Seine Leitfiguren auf diesem Weg waren Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir und Pierre Bourdieu, mit dem ihn auch eine persönliche Freundschaft verband.

Eine Geschichte wie die seine sei aber eine rare Ausnahme in Frankreich. Bis in die Führungsriege politischer Parteien schafft es kaum jemand aus seinem Herkunftsmilieu. "Sehen Sie sich die Parteien in Frankreich an. Die führenden Köpfe kommen allesamt aus elitären Kreisen. Auch bei den Sozialisten. Sie sind komplett abgekoppelt von jenen Menschen, die sie zu vertreten vorgeben. Das hat sich seit den 1970ern geändert. Damals kamen führende Politiker der Kommunisten und Sozialisten aus der Arbeiterklasse. Heute sind sie Anwälte oder Ärzte und waren auf denselben Eliteschulen wie die Konservativen und Rechtsextremen."

Überholt und veraltet

Wenn Eribon über Politik spricht, spricht er oft von der Arbeiterklasse. Ein Begriff, der verlorengegangen sei in der politischen Diskussion; den viele für überholt und veraltet hielten, manche gar für anstößig. "Sagen Sie 'Arbeiterklasse' in den USA. Das gibt helle Aufregung."

Die Zeiten haben sich zwar geändert, sagt auch Eribon. Die Massen an Fabriksarbeitern mit gemeinsamen Interessen und der Möglichkeit zu einem starken, organisierten Arbeitskampf, die gibt es heute nicht mehr. Eine Arbeiterklasse aber sehr wohl. "Eine genaue Abgrenzung ist natürlich schwierig."

Das ist wie mit dem Alter: Es gibt keinen eindeutigen Zeitpunkt, bis zu dem man jung ist oder ab dem man alt ist. Aber es gibt junge und alte Menschen. Genauso gibt es die Arbeiterklasse." Sie haben keinen Zugang zur höheren Bildung, arbeiten heute in prekären Verhältnissen oder haben überhaupt keinen Job. Sie sind die Ausgeschlossenen und Abgehängten, die politische Identität und Mitbestimmung wollen.

Unterschiedliche Kämpfe

Es gibt ihn also noch, den "Klassenkampf" ("lutte des classes")? "Selbstverständlich gibt es den", meint Eribon. "Und er wird heute von der Bourgeoisie geführt. Wenn der konservative Präsidentschaftskandidat François Fillon öffentliche Gelder verwendet, um sein Schloss zu renovieren, dann ist das Klassenkampf. Ein Kampf der Reichen gegen die Armen." Darauf brauche es dringend eine linke Antwort. Und die fehle.

Ein homogener, in sich geschlossener Widerstand gegen soziale Ungerechtigkeit existiere freilich nicht mehr. Den einen Kampf um Freiheit und Gleichberechtigung gebe es nicht, sondern ganz unterschiedliche Kämpfe. Den Kampf der Armen, den Kampf der Frauen, den Kampf der Homosexuellen, den Kampf der Flüchtlinge. Wenn die Welt zu einem gerechteren Ort werden soll, müssten viele zusammenarbeiten. (Philipp Bauer, Christoph Winder, 18.2.2017)