Thomas König sieht einen Hauptgrund für den Erfolg des Europäischen Forschungsrats darin, dass dessen Exzellenzanspruch nicht durch politische Kriterien oder Quoten verwässert wurde.

Heribert Corn

STANDARD: Der Europäische Forschungsrat wird heuer zehn Jahre alt und gilt allgemein als europäische Erfolgsgeschichte. Sehen Sie das auch so? Oder geht diese Einschätzung in erster Linie auf geschicktes Marketing zurück?

König: Geschickt ist das Marketing allemal, aber damit allein können Meinungen nicht gebildet werden. Also: Der ERC ist eine Erfolgsgeschichte, und zwar aus drei Gründen: erstens, dass er überhaupt eingerichtet wurde. Zweitens, dass man ein solches Instrument dann zum Laufen gebracht hat. Das war ein Musterbeispiel, wie Kompromiss und Kooperation in einer EU, die eigentlich keine guten rechtlichen Voraussetzungen für so eine Einrichtung bietet, zum Ziel führen. Und drittens, dass der ERC einen Standard etabliert hat. In Europa gilt es etwas, wenn man einen ERC Grant hat. Das wird als wesentlicher Nachweis von Exzellenz anerkannt.

STANDARD: Exzellenz ist heute ein inflationär gebrauchtes Wort in der Wissenschaftspolitik. Wie schaffte es der ERC, dieses Prädikat für sich zu pachten und sich mit dieser Aura zu umgeben?

König: Der ERC ist Teil und zugleich Resultat dieser Inflation: In den 1990ern hat sich in Kontinentaleuropa der Eindruck durchgesetzt, dass das bestehende System der akademischen Nachwuchsrekrutierung und Mittelausstattung problematisch ist. Für die anstehenden Reformen hat man Anleihen am angloamerikanischen Vorbild genommen: also neue Posten nur zu besetzen und Mittel nur zu vergeben, wenn bestimmte Qualitätskriterien erfüllt sind. Das wurde schnell unter dem Begriff der Exzellenz subsumiert. Jene Personen, die den ERC installiert haben, haben dann aber auch einiges richtig gemacht: Sie haben ein ausgefeiltes Entscheidungsverfahren eingesetzt, Wissenschafter als Evaluatoren nominiert, die höchstes Ansehen unter ihren Fachkollegen genießen, und haben ihnen die Entscheidungsverantwortung gegeben. Und sie haben genau aufgepasst, dass der Exzellenzanspruch nicht durch politische Kriterien verwässert wird.

STANDARD: Lässt sich diese Exzellenz anhand von Analysen der Publikationen aus ERC-Projekten erhärten? Anders formuliert: Erfüllt der ERC auch seinen selbstgesteckten Anspruch?

König: Für jeden Fonds zur Förderung von akademischer Forschung ist natürlich die Gretchenfrage, ob die Gelder dem Zweck entsprechend ausgegeben werden. Zweifel kommen sowohl vonseiten der Politik als auch vonseiten der Wissenschaft – nicht zuletzt von all jenen Antragstellern, die leer ausgegangen sind. Vergessen wir nicht: Beim ERC sind das bis zu 90 Prozent! Ich denke, dass die Frage selbst gar nicht objektiv beantwortet werden kann, sondern im Kontext eines permanenten Rechtfertigungsprozesses zu sehen ist, dem ein wissenschaftspolitisches Instrument wie der ERC heutzutage unterliegt. Jedenfalls ist der ERC sehr gut darin, Zweifel zu zerstreuen.

STANDARD: Und zwar wie?

König: Indem der ERC etwa penibel sein Entscheidungsverfahren orchestriert, also ständig den Peer-Review-Prozess adaptiert. Außerdem wird eine Übersetzung zwischen der Mission, exzellente Forschung zu fördern, und den konkreten Ergebnissen der geförderten Forschung geleistet – durch Statistiken und Maßzahlen, aber auch durch Presseaussendungen, wenn ein ERC-Grantee einen Nobelpreis erhält.

STANDARD: Unter den vom ERC geförderten Wissenschaftern sind jene aus den südlichen und östlichen Mitgliedsstaaten, aber auch Forscherinnen tendenziell unterrepräsentiert. Sollte man dem womöglich mit Quoten gegensteuern?

König: Das wäre, knapp gesagt, das Ende des ERC. Seine ganze Existenz, und sein wesentlicher Unterschied zum restlichen Forschungsrahmenprogramm der EU, besteht darin, dass er die Entscheidung über die Mittelzuteilung ausschließlich auf wissenschaftsimmanenten Kriterien konzentriert. Wenn er nun Quoten oder andere Kriterien einführt, dann schwächt er seine Aura und macht sich selbst überflüssig.

STANDARD: Was halten Sie für das bisher größte faktische Verdienst des ERC?

König: Dass er mit dem Großteil seiner Mittel – ich glaube, es sind inzwischen zwei Drittel – akademischen Nachwuchs fördert. Das passiert nicht durch akademische Patronage, sondern durch ein faires Verfahren und auf eine Art und Weise, die den Geförderten viel Zeit und Freiraum gewährt. Das wiederum fördert Selbstständigkeit und Kreativität. Zudem hat der ERC ein symbolisches Surplus geschaffen, das über ganz Europa reicht: Wenn ich einen Start-Preis vom FWF habe, und ich erzähle das Rektoren einer schwedischen oder portugiesischen Universität, sagt das diesen Rektoren wenig. Aber wenn ich ihnen sagen kann, ich hab einen ERC Starting Grant, der dem FWF-Start-Preis recht ähnlich ist, dann kennen die sich sofort aus.

STANDARD: Gibt es Dinge, die sich die österreichische Forschungsförderung vom ERC abschauen könnte – also etwa das Prozedere beim Peer-Review?

König: Der FWF hat ein lang etabliertes Peer-Review-Verfahren, hervorragende wissenschaftliche Referenten und legt hohen Wert auf internationale Begutachtung. Das ist breit akzeptiert. Man kann natürlich immer optimieren, aber ich sehe nicht unbedingt Bedarf, das Verfahren ganz umzustellen auf Review Panels, wie sie der ERC hat. Zumal das vom ERC installierte Verfahren nicht nur ausgefeilt und robust ist, sondern auch sehr aufwendig und teuer.

STANDARD: Im Vergleich zur National Science Foundation in den USA, die in gewisser Weise Vorbild für den ERC war, ist das Budget des ERC immer noch klein. Sollte es noch weiter gesteigert werden?

König: So klein ist es gar nicht. Der NSF hat sieben Milliarden Dollar im Jahr, der ERC kratzt bald an den zwei Milliarden Euro. Wie viel es nach 2020 sein werden, wird wohl in ein paar Monaten schon intensiv diskutiert. Wesentlich mehr wird es vermutlich aber nicht werden. Aus Sicht der Politik hat der ERC seine Nische gefunden. Und dass die diversen nationalen Förderer – also der FWF in Österreich oder die DFG in Deutschland – auf Teile ihres Budgets zugunsten des ERC verzichten würden, scheint mir unwahrscheinlich. Übrigens hat es ja einen Versuch gegeben, ein europäisches Förderprogramm aus aliquoten Mitteln von den nationalen Förderern zu etablieren: Dieser Versuch hieß European Science Foundation, gegründet 1974. Die ESF wird derzeit gerade abgewickelt. Eine traurige Geschichte.

STANDARD: Ex-EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso war nicht der große Wissenschaftsfreund, dennoch hat er den ERC als einen seiner "greatest hits" bezeichnet. Wie steht denn die neue EU-Führung zum ERC und zur Bedeutung der europäischen Forschungsförderung insgesamt?

König: Forschungsförderung und Wissenschaftspolitik standen in den frühen 2000ern weit oben auf der EU-Prioritätenliste: Man glaubte fest an die Idee der Wissensgesellschaft und daran, dass Innovation Europa aus seinen Strukturproblemen herausführen würde. Der Glaube ist immer noch verankert, aber inzwischen ist der Zustand der EU halt um einiges schlechter. Kommissionspräsident Juncker hat mit dem European Fund for Strategic Investment (EFSI) ja vor ein paar Jahren schon gezielt versucht, Gelder umzuwidmen, die für die Forschungsförderung vorgesehen waren. Die Ressorts und die Wissenschafter haben das weitgehend abgewehrt, aber es zeigt, dass die EU mittlerweile andere Sorgen hat.

STANDARD: Großbritannien war bis jetzt die erfolgreichste Nation beim Einwerben von ERC Grants, nun kommt der Brexit, der einen Ausschluss aus dem ERC bringen könnte. Ist das realistisch?

König: Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Brexit zu einem Ausschluss aus dem ERC führt. Weder die britische Regierung noch die europäische Wissenschaftslandschaft können daran ein Interesse haben. Dafür ist der ERC zu wichtig für die britischen Unis, und die britischen Unis sind zu wichtig für die Idee einer europäischen Wissenschaftslandschaft.

STANDARD: Noch einmal zurück zur Wissenschaft: Allgemein hat es den Eindruck, dass Anträge und eingeworbene Drittmittel heute für Forscher und ihre Karrieren weitaus wichtiger sind als im 20. Jahrhundert. Täuscht das, oder hat sich da wirklich etwas verschoben?

König: Das ist mit Sicherheit so. Bis spät ins vorige Jahrhundert waren Drittmittel das, was der Name heute noch sagt: zusätzliche Mittel für Forscher mit einer mehr oder weniger abgesicherten akademischen Karriere, damit sie spezielle Projekte durchführen konnten. Heute bilden sich Karrieren um Projekte. Das bringt viel Dynamik in die Wissenschaft, hat aber auch Nachteile.

STANDARD: Und zwar welche?

König: Zum Beispiel, dass die Forschungsförderer entscheiden, wer Karriere macht. Und jene, die das Geld bekommen, sind durch den oftmals kurzen Projektzyklus gezwungen, mehr nach akademischen Moden zu gehen. Das verhindert, dass langjährige Expertise in einem Bereich aufgebaut wird, was eigentlich eine explizite Stärke der akademischen Forschung ist. (Klaus Taschwer, 8.1.2017)

Thomas König (40) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Strategieberater am Institut für Höhere Studien (IHS) in Wien. Er studierte in Wien und Kopenhagen Politikwissenschaft und Geschichte, war unter anderem Fulbright Scholar an der Harvard University und drei Jahre lang wissenschaftlicher Berater von ERC-Präsidentin Helga Nowotny.