In Istanbul und Ankara gingen am Wochenende mehrere tausend Frauen, die meist aus dem säkularen Lager kamen, auf die Straßen. Doch auch bei den Religiösen wurde Kritik am Missbrauchsgesetz laut.

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Ankara/Athen – Er wollte ja nur helfen und das "Drama" beenden, in dem derzeit drei- bis viertausend Familien in der Türkei steckten, so hatte Bekir Bozdag noch im Parlament erklärt.

Dabei hatte der türkische Justizminister die Fälle von minderjährigen Frauen vor Augen, Mädchen von 14 oder 15 Jahren, die – so stellte es Bozdag dar – irgendwie schwanger geworden seien und deren Männer nun wegen sexuellen Missbrauchs eine Strafe droht oder die bereits im Gefängnis sitzen, wie es das türkische Strafrecht noch vorschreibt. Heiraten sie aber ihr Opfer, so erklärte der Minister, dann drückt der Richter ein Auge zu, und die Strafe wird ausgesetzt. So sieht es der Gesetzentwurf vor, den sechs Männer aus der Regierungsfraktion der konservativ-islamischen AKP unterschrieben hatten und den der Justizminister verteidigte. Dann brach der Sturm los.

Regierungschef Binali Yildirim ruderte am Samstag zurück, nur eine Stunde, nachdem sein Justizminister im Fernsehen erneut den Sinn des Gesetzes zu erklären versuchte. Mehrere tausend Frauen waren in Ankara und Istanbul auf die Straßen gegangen, auf Twitter und Facebook in der Türkei ergoss sich eine Flut wütender Kommentare über das, was als Legalisierung von Vergewaltigung und der Praxis der Kinderehen im Land angesehen wurde. Ein Sprecher des UN-Kinderhilfswerks Unicef zeigte sich "tief besorgt" über den Gesetzentwurf, der "eine Art von Amnestie für Täter vorsieht, die Kindesmissbrauch begehen".

Auch der Verein "Frauen und Demokratie" (Kadem) meldete sich kritisch zu Wort. Sümeyye Erdogan, die jüngere Tochter des Staatspräsidenten, sitzt dort im Vorstand. Das ganze Thema von Missbrauch und Kinderehe müsse anders bewertet werden, als es dieser Gesetzentwurf tue, hieß es in einer Stellungnahme des Vereins: "Wie soll ein kleines Mädchen seinen eigenen Willen kundtun?"

"Inoffizielle Heirat"

Denn hatte doch Bekir Bozdag, der Justizminister und einer der stellvertretenden Regierungschefs, erklärt: "Mit Zustimmung der Minderjährigen ist es keine Vergewaltigung. Es ist eine inoffizielle Heirat."

Premier Yildirim wies seine Partei nun an, mit den Rechtsexperten und den Parlamentarierinnen der AKP-Fraktion – sie waren offenbar nicht gefragt worden – eine geänderte Fassung des Gesetzentwurfs zu erarbeiten und dabei auch mit der Opposition zu reden. Für Dienstag ist die endgültige Abstimmung vorgesehen. Bei einer namentlichen Abstimmung, die die Opposition bei der Lesung Donnerstagnacht vergangene Woche erzwungen hatte, war nicht das erforderliche Quorum zustande gekommen.

Aber auch Yildirim fand nichts grundlegend Falsches an der geplanten Straffreiheit für sexuellen Missbrauch von Minderjährigen. Einen "Wind von Lügen" und "politischen Missbrauch" nannte er die Proteste.

Der Gesetzentwurf, so argumentiert die türkische Regierung, lege doch ausdrücklich fest, dass die Strafverfolgung nur ausgesetzt werde, wenn der Geschlechtsverkehr nicht aufgrund von "Gewalt, Drohung, Täuschung oder auferlegtem Willen" zustande gekommen sei. Die Amnestierung soll rückwirkend bis zum 16. November dieses Jahres gelten. Eine Verlängerung werde es nicht geben, versicherte Bozdag.

Für die Kritiker in der Türkei ist klar, dass es der Regierung um eine Legalisierung der Kinderehen geht. So hat es in der Türkei laut Statistikamt in den letzten zehn Jahren 482.908 Verheiratungen mit Minderjährigen gegeben. Das Höchstgericht hob im Juli einen Passus im Strafrecht zum Missbrauch Minderjähriger auf, weil nicht differenziert werde, ob es sich bei den Opfern um kleine Kinder oder um Zwölf- bis 15-Jährige handle. Die Berichterstattung in Österreich führte zum Streit mit Ankara. (Markus Bernath, 20.11.2016)