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Innenhof im Neapel der 1950er-Jahre, ein Treffpunkt nicht nur der Jugendlichen aus dem "Rione" (zu Deutsch: Viertel).

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Elena Ferrante, "Meine geniale Freundin", € 22,70 / 423 Seiten. Suhrkamp, Berlin 2016

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Das Buch Meine geniale Freundin von Elena Ferrante hat zwei Heldinnen, die man nicht so schnell vergisst. Die zwei Mädchen Lila und Elena wachsen in einem Arbeiterviertel Neapels auf, eingesponnen in die Ordnungen patriarchaler Familien der 1950er-Jahre sowie in deren unberechenbares Vendettanetz. Ich-Erzählerin ist Elena, symbolträchtig eine Pförtnertochter, die aus der Sicht der bereits über 60-Jährigen die Geschichte dieser lebenslangen Frauenfreundschaft niederzuschreiben beginnt.

Meine geniale Freundin (Original L'amica geniale, 2011) ist ein kräftiges, geradliniges, kernig geschriebenes Stück Literatur, das nach seiner Ersterscheinung vor fünf Jahren ein Welterfolg wurde, völlig übersehen vom deutschen Markt. Der Suhrkamp-Verlag rudert nun nach, um die weiteren Bände dieser vierteiligen Neapel-Saga "in rascher Folge", wie es heißt, auf Deutsch vorzulegen.

Eine derart prononciert weibliche Erzählperspektive ist in der Romanprosa nämlich rar – auch darin mag der enorme Zuspruch begründet sein. Gleiches gilt für das Genre Frauenfreundschaft an sich, das sich literarisch vorwiegend in Briefen manifestiert. Die den Protagonistinnen eingeschriebene emanzipatorische Energie wirkt gänzlich urwüchsig, sie bricht zuweilen slapstickhaft hervor. So kommt die Schustertochter Lila einmal in hohem Bogen aus dem Fenster geflogen ("dürr wie eine gesalzene Sardelle"), weil sie im Streit mit ihrem Vater wieder einmal unnachgiebig blieb. Oder: Sie geht einem aufdringlichen Camorra-Macker mit dem Schustermesser an die Gurgel.

Die ungeschriebenen Gesetze im "Rione" der 1950er-Jahre sind brutal. Don Achille etwa wird hinterrücks ermordet. Warum, das weiß nur der Wind. Es kann auch lebensgefährlich sein, mit dem falschen Burschen aufs Parkett zu tanzen. Gegebenenfalls muss man gar "den einen" heiraten, um "den anderen" loszuwerden.

Er ist "unter null"

Übersetzerin Karin Krieger hat die Schnoddrigkeit des im Viertel gesprochenen Dialekts gut ins Deutsche transportiert: Jemand sei eine "Arschgeige", ein anderer "unter null". Es schleicht sich in diesem Entwicklungsroman, der mit den introspektiven Biografien der zwei Mädchen auch ein Stück nationale (Nachkriegs-)Geschichte erzählt, aber zum Glück kein plausibilitätssteigerndes Lokalkolorit ein. Vielmehr nimmt sich die Sprache Ferrantes bestechend sachlich wie eine gut gelaunte Allgemeinmedizinerin der Patientin Realität an. Es gibt Indizien dafür, so viel dringt über das editorische Geheimprojekt nach außen, dass die pseudonyme Autorin auch Autobiografisches verarbeitet hat.

Sprache an sich ist ein wesentliches Thema dieses ersten Bandes, der die Zeit vom Volksschulalter bis zum 16. Lebensjahr umfasst, eine Phase, in der vieles im Leben bereits entschieden wird. Selbstbefreiung durch Bildung ist eines der Hauptmotive, sich über die Sprache eine Welt zu erobern. Lila und Elena wird der Bildungsweg allerdings trennen: Elena darf aufs Gymnasium, Lila nicht.

In der Folge bahnen sich zwei für das letzte Jahrhundert prototypische weibliche Lebensentwürfe an: der Kampf hinauf zur Bildungselite mit beruflicher Überidentifikation sowie andererseits der Kampf um notwendige ökonomische Sicherheit durch privates Glück. Die eine wird so zum Alter Ego der anderen.

Die Tragik ist, dass sie nicht eins sind. Es sind zwei auf verschiedenen Gleisen verlaufende weibliche Fluchtwege aus einem vorgesetzten Leben im Armenviertel. Die Diskrepanz zueinander macht wie viele andere gegensätzliche Eigenschaften von Lila und Elena den inneren Glutkern dieser Freundschaft. Sie ist der Motor des Buches, das sich – so viel lässt Teil eins vermuten – zu einer "genialen" Tetralogie weiten wird. (Margarete Affenzeller, Album, 24.9.2016)