STANDARD: Frau Tobisch, Sie haben in einem Interview mit der "Wiener Zeitung" zu Ihrem 90. Geburtstag heuer gesagt: "Ich habe eine große Wut auf die Politiker dieser Welt." Sind Sie eine Wutbürgerin?

Tobisch: Nein, aber wenn man so alt ist wie ich, den Zweiten Weltkrieg und die Nazizeit erlebt und nicht zu den Gewinnern, sondern zu einer Anti-Nazi-Familie gehört hat und danach die Aufbruchstimmung, die Hoffnung und den Willen zur Zusammenarbeit erlebt hat und dann unsere Politik ansieht, dann kriege ich einen ungeheuren Zorn: Was machen die alle mit unserer Welt? Die zwei in der Koalition kommen mir so vor: Sie stehen am Strom, der eine auf der Seite, der andere auf der anderen, mit dem Hintern zueinander, und jeder kocht seine Suppe, und sie merken nicht, dass der braune, grausliche Urmief wieder in die Höh' kommt. Was ist da los?

Glawischnig: Das ist eine gute Beschreibung des Koalitionsklimas, mit dem Rücken zueinander, jeder kocht seine eigene Suppe, und sie merken nicht, dass sie die Gerichte eigentlich für jemand anderen zubereiten. Als Kärntnerin habe ich Jörg Haider zweimal miterlebt, das erste Mal noch als Schülerin, das zweite Mal in seiner Landeshauptmannzeit als direkte Opponentin mit dem Einzug der Kärntner Grünen in den Landtag. Mein innerster Antrieb war immer, einen Gegenpol zu setzen und auszusprechen, wenn rote Linien überschritten werden. Das habe ich bei Faymann vermisst, aber vor allem bei der ÖVP, bei Sebastian Kurz vermisse ich das jetzt manchmal, dass rote Linien eingehalten werden.

2+1 am Opernring: Lotte Tobisch empfing Eva Glawischnig und den STANDARD in ihrer Wohnung in Wien.
Foto: Heribert Corn

Tobisch: Wenn man mich nach meinem politischen Standpunkt fragt: Die Roten glauben, ich bin schwarz, die Schwarzen glauben, ich bin rot. Die Grünen sagen, na, wir haben noch nicht viel von ihr gehört, aber sie ist nicht gegen uns, und die Blauen, na, bei denen komm' ich nie vor, und das ist gut so. Alle haben recht! Ich habe keine Partei. Mich interessiert, dass in diesem Land etwas weitergeht, dass die Politik einen Rahmen liefert, innerhalb dessen sich die Bürger so frei und so kreativ wie möglich bewegen können. Das werfe ich euch vor. Ihr tötet Kreativität, indem Verbote aufgestellt und Linien gezogen werden. Ihr sagt, das ist richtig, und das ist falsch, ungesund, das darf man nicht. Lassen S' doch die Leut', die kommen schon drauf. Natürlich muss man gewisse Grenzen setzen, aber man kann und soll Menschen nicht vor allem bewahren, was falsch ist.

Glawischnig: Das ist ein Klischee. Da muss ich schon klar widersprechen. Es gibt viele Bereiche in unserer Gesellschaft, in denen viel Unfreiheit herrscht, denken wir nur an das Schulsystem. Einer unserer Gründungsaufträge ist, auf die ökologische Nachhaltigkeit hinzuweisen. Das ist sicher nicht immer eine bequeme Aufgabe. Wenn man sich vor Augen führt, dass die Weltgemeinschaft es geschafft hat, sich zum ersten Mal auf einen gemeinsamen Weltklimavertrag zu verständigen, dann sind das schon historische Zäsuren. Dass der Umbau einer Industriegesellschaft nicht von heute auf morgen geht, ist unbestreitbar. Deswegen muss man vom Kleinen ins Große gehen. Das fängt bei der Mobilität an, dazu gehört Stromerzeugung, aber dass das überhaupt einmal ins Bewusstsein gerückt wird, dass der Umbau jetzt passieren muss, ist schon ein wichtiger Schritt.

Tobisch: Ich fand die ganze Hainburger-Au-Bewegung fabelhaft, Anti-Atom wunderbar – aber dann, wenn der Strom fehlt, von Pressburg Atomstrom zu holen, das ist nicht zu Ende gedacht. Da muss man eine Alternative haben.

STANDARD: Nervt Sie der Vorwurf, die Grünen seien eine Verbotspartei mit einem paternalistischen Zugang?

Glawischnig: Wie gesagt, das ist ein Klischee. Natürlich haben wir bestimmte Vorstellungen. Es kommt dann immer das Beispiel mit der Ernährung. Selbstverständlich kann sich jeder ernähren, wie er oder sie das möchte. Aber es muss uns allen trotzdem klar sein, dass es gewisse Grenzen auf diesem Planeten gibt und dass man diese Grenzen nicht unendlich überschreiten kann.

Tobisch: Das ist ganz unmodern, was ich jetzt sage, aber ich glaube, da ist Mäßigung viel wichtiger.

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Glawischnig: Man muss zu den Konsequenzen seines Handelns stehen, darum halte ich Ehrlichkeit und Offenheit für wichtige Kriterien redlicher Politik. Außerdem finde ich, Liberalität fängt nicht beim Essen an. Für mich sind die Bürgerrechte, wo es um unsere persönlichen Freiheiten, um Datenschutz, um Überwachung etc. geht, die relevanten Freiheiten. Bei Überschreitungen der Grenzen dieser klassischen Bürgerrechte waren und sind die Grünen immer die nachdrücklichsten Mahner.

STANDARD: Frau Glawischnig, Sie sagen: "Schon als Jugendliche haben mich die patriarchalen Strukturen, die mich als Frau benachteiligt haben, gestört." Inwiefern?

Glawischnig: Das ist ja auch ein Weilchen her: Oberkärnten, Gasthaus, Landwirtschaft, Mitarbeit im Betrieb, vorwiegend Frauen, die dort gearbeitet haben, eigentlich eine sehr arbeitsintensive Kindheit, und ich habe damals schon mitgekriegt, dass es unterschiedliche Zugänge gibt. Ich hatte zum Beispiel eine Kollegin, die musste ihren Mann fragen, ob sie einen Kochkurs machen darf ...

Tobisch: Na gut, wenn sie so blöd ist und fragt ... Das braucht sie doch nicht! Da kann man ihr nicht helfen! Das kann man doch nicht dem Mann zum Vorwurf machen.

Glawischnig: Mach ich nicht. Aber es waren Strukturen, wo ich doch das Gefühl hatte, dass es eine gewisse Ungleichbehandlung gibt. Und das Einkommensthema ärgert mich bis heute.

Corn

STANDARD: Frau Tobisch, haben Sie ähnliche Erfahrungen gemacht?

Tobisch: Ich habe für das, was sich jetzt auf dem Emanzengebiet abspielt, ich muss es leider sagen, sehr wenig übrig. Es kann heute jeder machen, was er oder sie will.

Glawischnig: Aber ich glaube, selbst wenn Sie sagen, Sie sind keine Emanze – Sie sind auf jeden Fall eine. (lacht)

Tobisch: Na und ob! Und zwar eben gerade deshalb. Ich sage immer, ich war schon emanzipiert, da waren die Emanzen von heute noch gar nicht konzipiert. Ich weiß, was es gekostet hat, bis man so weit gekommen ist, wie wir heute sind. Wir leben in einer Zeit, in der die ganze Welt zittert vor einer kleinen Pfarrerstochter aus der Uckermark, demnächst haben wir die Frau Clinton als Präsidentin, wir haben die Frau Lagarde an der Spitze des Währungsfonds. Ganz große Positionen sind besetzt von Frauen. Was wollt ihr noch?

Glawischnig: Ich finde, es gibt noch einige Positionen, die Frauen erobern könnten.

Tobisch: Ja, aber es müssen nicht alle sein. Lassts die Männer doch auch leben. Lassts ihnen auch einen Rest, die sind doch eh schon so frustriert. Die Männer fürchten sich doch eh schon.

Glawischnig: Diversität, Unterschiedlichkeit muss das Ziel sein.

Tobisch: Was wirklich zu tun wäre, ist, dass sich die Gewerkschaft endlich darum kümmert, das Problem der Frauen mit Kindern, Gehältern, Horten etc. zu regeln. Sonst habe ich überhaupt nichts übrig für die Forderungen mit Binnen-I und die schreckliche Sache mit der blöden Bundeshymne, das ist unerträglich. Als ich in den 1940er- und 1950er-Jahren zum Entsetzen meiner feinen Familie das gemacht habe, was ich wollte, war das ein Risiko. Man ist hinausgeflogen aus der Gesellschaft. Man wurde nicht gegrüßt, ich erinnere mich an Situationen, in denen gesagt wurde: Wenn die kommt, geh' ich.

Glawischnig: Bei einem bin ich ganz bei Ihnen, dass die Vereinbarkeitsthematik nach wie vor für viele Frauen eine riesige Belastung ist und sie hemmt, in eine Einkommenssituation zu kommen, in der sie auch selbstständig sein können. Die Gewerkschaft hat das wahrscheinlich viel zu lange zu wenig betrieben.

2+1 Fragen nach Max Frisch an Eva Glawischnig und Lotte Tobisch. Video: Sarah Brugner
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STANDARD: Die Hofburg bleibt den Männern zumindest diesmal noch erhalten. Sie, Frau Tobisch, sagten, bei der Stichwahl haben Sie Alexander Van der Bellen "nolens volens" gewählt, "obwohl mir jemand jüngerer lieber gewesen wäre".

Tobisch: Nicht nur jünger, mir wäre die Griss lieber gewesen. Da hätte man alles auf einmal gehabt: Sie ist Juristin, parteilos und eine Frau. Endlich wär' a Ruh' gewesen.

Glawischnig: Ich habe großen Respekt vor Frau Griss.

Tobisch: Wobei ich mit jünger nicht weniger an Jahren meine. Ich fühle mich mit meinen 90 ganz schön jung. Der Van der Bellen hat für mich was von einem uralten Großvater. Tut mir leid.

Glawischnig: Das entscheidende Argument ist seine politische Ausrichtung, und wenn Sie sagen, Europa ist für Sie ein Herzensanliegen, dann kommt nur Van der Bellen infrage.

Tobisch: Schauen Sie, bei der Auswahl kommt nix anderes infrage.

Glawischnig: Es ist auch eine Entscheidung für jemanden, der ein klar proeuropäisches Wertekonzept hat. Ich bewerbe diese Entscheidung für ihn, weil ich sie für vernünftig halte.

Tobisch: Ich weiß, das ist ja auch Ihre Aufgabe, Sie zahlen ja auch die Propaganda. Nein, nicht mit mir! Den Herrn Van der Bellen wähle ich, weil er ist sicher ein anständiger Mensch und der andere nicht infrage kommt. Aber meine Begeisterung hält sich in Grenzen.

Glawischnig: Vielleicht kann er Sie noch überraschen. Er ist ein sehr humorvoller Mensch.

Tobisch: Ja? Also mich langweilt er zu Tode, wenn ich hinschaue.

Foto: Heribert Corn

STANDARD: Frau Tobisch, in Ihrem Wikipedia-Eintrag steht der Satz: "Lotte Tobisch-Labotýn gilt als Inbegriff der eleganten Wiener Salondame." Nervt Sie dieses Etikett?

Tobisch: Das ist halt so, wenn man einen gewissen Typus verkörpert und dazu jahrelang ein großes Fest gemanagt hat, wo die Sage ist, es sei ein Nobelfest. Dass ich nicht laut lache! Wenn man den Opernball kennt – da ist genauso Krethi und Plethi. Die Legende von der "Opernballlady" – es ist deppert, aber man muss das ertragen. Heute benütze ich Gott und die Welt der sogenannten Society, um Geld für das Künstlerseniorenheim in Baden zu sammeln.

STANDARD: Ihnen, Frau Glawischnig, wurde vorgeworfen, Teil der "Seitenblickegesellschaft" zu sein. Lust- oder Muss-Auftritte?

Glawischnig: Das ist lang her. Es hat natürlich auch einen Statement-Charakter, wenn ich etwa auf den Life Ball gehe. Die FPÖ war nie dort.

Tobisch: Ich bin dort im schlichten Alter von 67 sogar als Braut über den Laufsteg gegangen. (lacht) Es ist so: Wenn Sie was haben wollen, ob bei mir Geld fürs Altersheim oder bei Ihnen Stimmen für die Partei, dann müssen Sie in Erscheinung treten, auch in den "Seitenblicken".

Glawischnig: Ja, ich wähle schon sehr genau aus. Bei jeder Kühlschrankeröffnung bin ich nicht, allein schon familiär bedingt. (Lisa Nimmervoll, 12.9.2016)