Experten fordern eine differenziertere Auseinandersetzung mit der Lebensrealität von pflegebedürftigen Menschen.

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Wien – Unabhängigkeit verlieren. Unter starken chronischen Schmerzen leiden. Dement werden. Diese Vorstellungen bereiten vielen Menschen in Österreich im Alter von über 50 Jahren "sehr" oder "eher" Sorgen (je 80 bis 83 Prozent). Ähnliches gilt für die Vorstellung, eine Belastung für die Familie zu werden und Körperfunktionen nicht mehr kontrollieren zu können (rund drei von vier Personen). Ängste, sich Pflege nicht leisten zu können, allein zu sein oder Hobbys nicht mehr nachgehen zu können sind für rund zwei Drittel mit Sorge behaftete Zukunftsbilder.

Das ergab eine repräsentative Befragung der Österreicher im Alter von über 50 Jahren. 958 Personen wurden dazu persönlich vom Institut für empirische Sozialforschung für das Institut für Sozialmedizin und Epidemiologie an der Medizinischen Universität Graz befragt. Weiters wurde erfragt, welche Einschränkungen im Alter für die Menschen ein Grund wären, nicht weiterleben zu wollen. Schwere chronische Schmerzen sind es für mehr als die Hälfte der Befragten. Rund ein Drittel sähe sich an diesem Punkt angekommen, wäre er oder sie mit Demenz konfrontiert.

Je mehr die Personen angaben, dass mögliche Alterserscheinungen für sie mit Ängsten behaftet sind, desto eher wollen diese den Zeitpunkt ihres Todes selbst bestimmen können und befürworten eher Maßnahmen wie den assistierten Suizid, heißt es in der kürzlich vom Georg-Thieme-Verlag publizierten Zusammenfassung der Studienergebnisse.

Negative Stereotype

"Die beträchtliche Verbreitung der Annahme, dass ein Leben als pflegebedürftige Person nicht wert ist, gelebt zu werden, könnte als negatives Stereotyp hinsichtlich des Alter(n)s bewertet werden, das allerdings den gesellschaftlichen Umgang mit pflegebedürftigen Älteren mitbestimmt." Conclusio: Die Sorgen vor Pflegebedürftigkeit müssten öffentlich stärker thematisiert, die Lebenswirklichkeit Pflegebedürftiger differenzierter dargestellt werden.

Menschen, die bereits pflegebedürftig sind, wurden in die Befragung nicht einbezogen. "Die theoretischen Vorstellungen sind oft weit weg von dem, was Menschen in Akutbetroffenheit dann wirklich wollen", gibt Harald Retschitzegger, Präsident der Österreichischen Palliativgesellschaft, zu bedenken. "Pflegebedürftige können auch ein sehr zufriedenes Leben führen. Andere können aber auch tiefunglücklich sein", sagt der Mediziner. Retschitzegger sieht noch Bedarf für eine differenzierte Auseinandersetzung mit der Lebensrealität Pflegebedürftiger.

Zur Angst der Österreicher vor starken chronischen Schmerzen sagt Retschitzegger, es habe sich in den vergangenen Jahren bezüglich der Versorgung Betroffener einiges verbessert, es würden in Österreich aber "noch sehr viele Menschen" an Schmerzen leiden, "die nicht notwendig wären".

Ausbau der Palliativmedizin

Fragen zu einem guten Sterben interdisziplinär aufzuarbeiten versucht das Netzwerk Lebensende. Willibald Stronegger vom Institut für Sozialmedizin und Epidemiologie in Graz, wo auch die Studie gemacht wurde, sagt, es sei "extrem schwierig", für wissenschaftliche Projekte in diesem Feld Forschungsgelder zu bekommen – obwohl man, verglichen mit anderen medizinischen Gebieten, nur kleine Summen brauche. Zu den Erkenntnissen aus der Studie seiner Institutskollegen sagt Stronegger, es sei angesichts der offenbar weitverbreiteten Ängste wichtig, dass auch positive Beispiele aus der Hospiz- und Palliativmedizin sichtbar gemacht werden.

Der lückenlose Ausbau einer österreichweiten palliativmedizinischen Versorgung, wie vom Parlament bereits im März 2015 beschlossen, lässt noch auf sich warten. Palliativmedizin befasst sich mit der Betreuung schwerkranker Patienten mit stark begrenzter Lebenserwartung. Detailfragen zur Finanzierung des Ausbaus wurden in die Finanzausgleichsverhandlungen verschoben. (Gudrun Springer, 1.8.2016)