Ein Mann, der von der Erinnerung an die alte Welt verfolgt wird: Josef Hader als Stefan Zweig und Aenne Schwarz als seine Frau Lotte in "Vor der Morgenröte".

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Wien – Petrópolis, schon der Name der brasilianischen Stadt klingt wie aus einer unwirklichen Welt. Zwei Männer, einer Schriftsteller, der andere, Ernst Feder (Matthias Brandt), ehemaliger Feuilletonchef aus Berlin, stehen auf der Veranda eines Hauses und blicken auf das satte Grün, das vor ihren Augen endlos wuchert. "Ein tropischer Semmering", meint der eine dann – und man ist sich bei dieser Aussage von Stefan Zweig nicht sicher, ob es wehmütig oder auch ironisch gemeint ist. Wahrscheinlich schwingt von beidem etwas mit. Eindeutig ist für die beiden Exilanten ohnehin nur die Freude darüber bestimmbar, sich an diesem fernen Ort zufällig über den Weg gelaufen zu sein.

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Vor der Morgenröte, Maria Schraders Film über Stefan Zweigs Erfahrung im Exil, gelangt wiederholt zu solchen Momenten großer Ambivalenz. Keine Szene des Films spielt in jenem Europa, das der österreichische Autor in seinen posthum veröffentlichten "Memoiren" noch einmal als eine "Welt von Gestern" heraufbeschworen hat. Und doch bleibt dieses an den Nationalismus und den Krieg verlorene Reich stets spürbar; nicht wirklich greifbar, auch kaum verhandelbar, aber als Erinnerungsbild, das auf dem Helden lastet, anwesend.

Ein Beispiel: Zweigs Blick aus dem Fenster des fahrenden Wagens, der nie nach außen, auf die brasilianischen Felder gelangt, sondern dazwischen hängenbleibt, dort gleichsam verhallt. Selbst wenn er sich während eines verunglückten Empfangs bei brütender Hitze mit seiner Frau Lotte (Aenne Schwarz) nur eine Blechblasvariation des Donauwalzers anhören muss, legt sich ein Schleier der Melancholie über sein Gesicht.

Diese Sensibilität für die Zerrissenheit eines Überlebenden, dem genau dieses Überleben zum wachsenden Hindernis wird, ist nur eine der Qualitäten von Vor der Morgenröte – einer Arbeit, die auf dem Papier möglicherweise falsche Assoziationen weckt. Denn es ist keiner dieser behäbigen Filme um historische Persönlichkeiten, die sich in Ermangelung einer Position auf Ausstattungsfragen beschränken, ganz im Gegenteil. Schrader hat eine überzeugende, ungleich anspruchsvollere Form der Annäherung gefunden.

Schon die Besetzung Stefan Zweigs mit Josef Hader, ein mutiger Tempowechsel für den Publikumsliebling, birgt das Risiko, dass die neue Rolle hinter der Persona Haders nicht durchkommt. Tatsächlich benötigt es etwas Geduld, bis die Sprachfärbung des Schauspielers und die Figur ein Ganzes sind, dann aber erweisen sich Haders leichte Schüchternheit im Spiel, die sanfte Zerstreutheit, die Traurigkeit dieses Komödianten als umso wirkmächtigeres Instrument.

Szenische Miniaturen

Maria Schrader und ihr Autor Jan Schomburg haben eine offene Form gewählt, exemplarische Momente, nicht notwendigerweise Wendepunkte aus Zweigs Leben von 1936, als er das erste Mal nach Brasilien kommt, bis zu seinem Freitod im Februar 1942. Die erste und die letzte Einstellung sind starre Plansequenzen, mithin in einem längeren Take gedreht – Letztere verblüffend im Zusammenspiel mit einem Kastenspiegel, der den Raum der Toten um hereintretende Trauernde verlängert. Die Kamera führte Wolfgang Thaler, der regelmäßig mit Ulrich Seidl und Michael Glawogger gearbeitet hat.

Die szenische Verknappung, am Ordnungsprinzip von Sternstunden der Menschheit orientiert, schärft das Profil des Intellektuellen Zweig, der sich die eilfertige Analyse untersagte. Beim PEN-Kongress 1936 in Buenos Aires gibt er den Journalisten nicht nach, die von ihm eine Verurteilung Deutschlands hören wollen: "Jede Widerstandsgeste, die kein Risiko in sich birgt, ist geltungssüchtig."

Die andere, davon abhängige Seite ist die Ohnmacht, die den rigorosen Pazifisten – es gebe keine Opposition gegen den Krieg, so Zweig später – in seiner Lage einholt. Vor der Morgenröte erzählt von dem Spalt, den die Geschichte in das Leben eines Mannes reißt, der seiner Kultur verlustig geht. Und dem es genauso zusetzt, dass sie ihn überallhin verfolgt.

Das Ganze steckt im Detail. Im Fluchtpunkt der Bilder, den Gesten, dem Vertrauen ins Ungesagte, in die Stille. Ein Mann im Zuckerrohrfeld mit Notizblock sagt genug aus. Die stumme Verzweiflung bewegt. New York, wo ihm seine erste Frau Friderike (Babara Sukowa) Lebensmut einzuimpfen versucht, ist ein winterliches Trauerspiel, Brasilien ein Traum, der unter der Tropenhitze implodiert. Der Semmering bleibt weit weg. (Dominik Kamalzadeh, 1.6.2016)