Southampton/Wien – Am Anfang stand eine Zahl. 120 Millionen Euro. So viel erlöste der FC Southampton im letzten Sommer auf dem Transfermarkt. So viel wie kein anderer Fußballklub weltweit. Der beispiellose Abverkauf war einer starken Performance in der Saison 2013/14 geschuldet, welche die Saints unter Manager Mauricio Pochettino auf Platz acht beendet hatten.

Nun standen Großklubs Schlange, um sich zu bedienen. Astronomische Summen wechselten die Konten: Manchester United bezahlte für den 19-jährigen Linksverteidiger Luke Shaw 37,5 Millionen. Calum Chambers, sein gleichaltriger Kollege von der rechten Seite, wanderte für 20 Millionen zu Arsenal. Für Adam Lallana (31 Mio.), Dejan Lovren (25 Mio.) und Rickie Lambert (5,5 Mio.) erhielt Liverpool den Zuschlag. Und auch Pochettino sagte ein etwas unschönes Farewell, nachdem er seinen Arbeitgeber lange über seine Absichten hatte rätseln lassen: Tottenham Hotspur lockte mit Ambition, einem brauchbaren Gehaltsscheck und einem immer noch klingenden Namen.

Der geht Southampton ein bisschen ab. Was Flair und die Bestückung der Pokalvitrine angeht, hinkt der Verein aus der südenglischen Hafenstadt so manchem Konkurrenten doch hinterdrein. Größter Erfolg und einziger Titel in der 1885 anhebenden Vereinshistorie ist der Gewinn des FA Cups im Jahr 1976 – gegen ManUnited schaffte der damalige Zweitligist mit einem 1:0 im Finale die Sensation. (Heroisches Detail am Rande: Keeper Ian Turner war ohne Handschuhe angetreten.) Dem ganz großen Preis kam Southampton 1984 am nächsten, als man in der alten First Division als Vize-Meister nur dem FC Liverpool den Vortritt lassen musste.

Es war die Ära des großen Lawrie McMenemy, der die Fußballwelt verblüffte, als es ihm 1980 in einem geheimnisumwitterten Coup gelang, Kevin Keegan zu den Saints zu locken. Keegan war zu diesem Zeitpunkt Europas Fußballer des Jahres und hatte mit dem HSV große Erfolge gefeiert – nun wechselte er zu einem Team, dessen Ziel die Etablierung in der ersten Liga war. Und der kleine, große Stürmer schlug ein: 37 Goals in zwei Saisonen.

Lawrie McMenemy verkündet auf einer Pressekonferenz im Februar 1980 das Erscheinen von Kevin Keegan in Southampton.
Southampton FC

In der Nachkriegszeit war Southampton zumeist in der obersten Spielklasse vertreten, ab 1978 sogar 27 Jahre lang ohne Unterbrechung. Doch 2005 fand die gute Zeit ihr Ende, bis in die drittklassige League One rutschte der Klub hinunter – in solchen Niederungen hatte man sich zuletzt in den 1950er-Jahren gefunden. Erst 2011 gelang eine bemerkenswerte Trendwende, die mit dem Durchmarsch in die Premier League 2012 ihren vorläufigen Höhepunkt erreichte.

Die Unbekannte und der Eishockey-Coach

Doch zurück zum "Sommer der Schmerzen", wie sich Präsident Ralph Krueger auszudrücken pflegte. Jener Mann, den man intuitiv immer noch im Eishockey verorten würde, der aber seit einem Dreivierteljahr den Puck mit dem Ball tauschte. Southampton-Besitzerin Katharina Liebherr hatte sich aufgrund seines "beeindruckenden Hintergrunds in den großen Ligen des Sports" dafür entschieden, die Position mit dem 54 Jahre alten Deutschkanadier zu besetzen.

Wobei auch die Schweizerin Liebherr, 36, nicht gerade die typische Besetzung im männerdominierten Ball-Business darstellt. Sie stammt aus der weitverzweigten Unternehmerfamilie Liebherr, ihr Großvater hatte 1949 den gleichnamigen Baumaschinenkonzern gegründet. Liebherrs Vater Markus hatte sich 2009 bei den insolventen und daher mit einem Abzug von zehn Punkten sanktionierten Saints eingekauft. 2010 starb der Milliardär im Alter von 62 Jahren – und seine Tochter erbte einen drittklassigen Fußballklub. Lange hielt sich Liebherr, über deren Person so gut wie keine Informationen in die Öffentlichkeit gelangen, im Hintergrund. Das änderte sich, als zu Jahresbeginn Friktionen mit Geschäftsführer Nicola Cortese ruchbar wurden. Der italo-schweizerische Banker war noch von Markus Liebherr verpflichtet worden und hatte im Klub seither die Linie vorgegeben.

Nach seinem Abgang im Streit griffen Sorgen um die Zukunftsperspektiven Platz, denn über die Absichten Liebherrs war so gut wie nichts bekannt. Aber offenbar ist ihre Verbindung zu den Saints doch eine engere als befürchtet, denn eine Neubesetzung der Führungspositionen wurde angegangen und offenbar durchaus konstruktiv zum Abschluss gebracht. Und auch der umfassende sportliche Umbruch endete nicht, wie vielfach befürchtet, in der Katastrophe.

Hand und Fuß

Die Vereinsstruktur scheint so verfasst zu sein, dass sie personelle Veränderungen abfedern kann, ohne dass es zu negativen Auswirkungen auf die Qualität der Abläufe kommt. Konzeptionell federführend ist diesbezüglich in sportlicher Hinsicht die Entwicklungsabteilung Fußball. Sie wird vom 61-jährigen Les Reed geleitet, der mit seinem Team daran arbeitet, einheitliche Standards hinsichtlich Spielphilosophie, Coaching, medizinischer Betreuung und Analysemethodik zu implementieren.

Er war es auch, der auf dieser Grundlage ein Anforderungsprofil für den vakant gewordenen Posten des Managers herausdestillierte. Sechs Kandidaten blieben am Ende übrig, ganz oben auf der Liste stand Ronald Koeman. Mit dem 51-jährigen Niederländer einigte man sich schließlich auch auf einen Dreijahresvertrag. Der ehemalige Verteidiger/Libero mit dem harten Bums war der Einzige, der beim niederländischen Triumvirat Ajax, PSV und Feyenoord sowohl als Spieler als auch als Trainer engagiert war. Zuletzt hatte er die bedenklich abgeschmierten Rotterdamer wieder zurück auf sicheres Terrain renoviert.

Koeman war also, was seine Reputation betrifft, genau der Richtige, um dem ins Gerede gekommenen Projekt Southampton nach außen die notwendige Glaubwürdigkeit zu verleihen. Von der Kongruenz des fußballerischen Ansatzes ganz zu schweigen. Die Wahrscheinlichkeit für einen harmonischen Übergang war hoch, und Koeman sah das selbst auch so: "Ich wusste viel über Southampton, denn in Holland ist natürlich bekannt, dass ihre Jugendakademie berühmt ist. Es ist ein bisschen wie bei uns, sie geben jungen Spielern eine Chance", sagte er auf der Webseite des Klubs.

Manchmal kommt es anders

Doch obwohl dieses Modell Kaliber wie Gareth Bale, Alex Oxlade-Chamberlain, Theo Walcott oder eben auch Shaw produziert hat – die Herausforderung, kurzfristig eine neue Mannschaft zusammenzustellen, war nicht zu meistern, ohne erst einmal ordentlich Geld in die Hand zu nehmen. Elf Akquisitionen sollten es schließlich werden, die zu teils stolzen Preisen im 33.000 Zuschauer fassenden St Mary's Stadium ihren Arbeitsplatz fanden – dass das Börsel der Saints prall gefüllt war, konnte natürlich niemandem in der Szene entgehen. Jener Mann, für den die höchste Summe fällig war, hieß Sadio Mané, 15 Millionen wanderten für den linken Flügel auf das Konto von Red Bull Salzburg.

Krueger gab zu, sein Verein sei ein "wahnsinniges Risiko" eingegangen, zum Umbruch habe es jedoch keine Alternative gegeben. Ein Wettbieten mit den finanzkräftigen Klubs, zumal gegen den Willen der abwanderungswilligen Spieler, wäre aussichtslos gewesen. Und es fehlte nicht der Hinweis, dass man der neuen Mannschaft Zeit zur Selbstfindung zugestehen müsse.

Der 29-jährige Italiener Graziano Pellè konnte schon bei Feyenoord mit überragenden Trefferquoten aufwarten. Er folgte im Sommer seinem Trainer Ronald Koeman nach Southampton, und auch dort läuft es rund: Sechs Tore erzielte der frischgebackene Teamspieler in neun Matches.
Jema Ndibwile

Es sollte anders kommen. Nach zehn absolvierten Runden in der Premier League hat Southampton mitnichten damit zu tun, sich im Abstiegsstrudel über Wasser zu halten. Das Team von Koeman sitzt stattdessen als erster Verfolger von Chelsea auf einem gloriosen zweiten Platz. Vorn, hinten und mittendrin funktioniert es in diesem Werkl von Anfang an auf wundersame Weise. Mit 21 erzielten Toren hat Southampton die hinter dem Leader aus London zweitbeste Ausbeute vorzuweisen, am anderen Ende hat man sich gerade einmal fünf Gegentreffer eingefangen – die mit Abstand geringste Zahl der Liga. Das 1:0 bei Hull City am vergangenen Samstag war die bereits sechste weiße Weste der Saison, Höhepunkt war ein verrücktes 8:0 gegen Sunderland. Koeman wurde zum Trainer des Monats September gekürt, sein Stürmer Graziano Pellè gleichzeitig als Spieler des Monats ausgezeichnet.

Hat Southampton tatsächlich das Format eines Titelkandidaten? Noch wagt wohl niemand, diese Frage mit einem klaren Ja zu beantworten. Noch begleitet auch Koeman sein "Vielleicht" mit einem Lachen. Sollte es ihm vergehen, er hätte wohl nichts dagegen einzuwenden. (Michael Robausch, derStandard.at, 4.11.2014)