Ein Leben wir vor 10.000 Jahren: Geht das überhaupt? Und ist es auch gesund?

Foto: Photo courtesy Paola Villa/University of Colorado

Fleischfressen schön und gut. Dazu viel frisches Gemüse, Früchte, Fisch, Eier, Nüsse - und dann ist es eigentlich schon aus mit dem Angebot. Denn Anhängerinnen und Anhänger der Paleo-Diät wollen sich ernähren wie in der Steinzeit, als die Menschen Jäger und Sammler waren.

Schlecht verträglich

Getreide und Milchprodukte, als die Errungenschaften der Sesshaftigkeit und des Ackerbaus, werden als ungesund abgelehnt. Argumentiert wird gemeinhin damit, dass diese Nahrungsmittel nicht unserem ur-eigensten Wesen entsprächen, also schlecht verträglich seien.

"Hurra!", denken sich jetzt alle Laktose- und Glutenunverträglichkeitsbetroffene, "ich hab‘s ja schon immer gewusst". "Noch so eine Low-Carb-Diät", meinen Skeptikerinnen. Wie aber lässt sich der enorme Erfolg der Paleo-Apostel erklären? Eine Publikation zu dem Thema jagt die andere, Kochbücher, Ratgeber und seit neustem auch Paleo-Schönheitsprodukte, Kleidung, dutzende Blogs - die Paleo-Bloggerin Michelle Tam allein hat etwa 51.962 Follower auf Twitter - und ein eigenes Paleomagazin überschwemmen, vorerst englischsprachig, den Markt.

Keine Diät

Durch das fast völlige Weglassen von Kohlenhydraten erscheint die Paleo-Diät zum Abnehmen geeignet, "sechs Kilo in sechs Wochen, das ist möglich", verspricht eine Publikation. Dabei wird in vielen Paleo-Ratgebern versichert, dass es natürlich nicht ums Abnehmen gehe: "Pure Food", wie die Steinzeitkost Neudeutsch genannt wird, "ist keine Diät. Es ist ein Lebensstil, der auf der Idee basiert, dass wir bevorzugt die Lebensmittel essen sollten, für welche unser Körper geschaffen wurde", steht unter anderem in "Der Paleo-Code. Pure Food. Pure Training" zu lesen.

Wie der Name dieses Buches schon sagt, geht es längst nicht nur um die Ernährung. Diese muss "natürlich" mit dem richtigen "Workout" verbunden werden. Angemessen erscheint den Neoneandertalern Bewegung, wie sie unsere Vorfahren betrieben - schlicht um zu überleben: (Davon)laufen und Klettern stehen ebenso am Plan wie Mammuts schleppen, heute werden statt dessen eben "Kettlebell", also Kugelhanteln gewuchtet, "Cross Fit" wird das in den USA gemeinhin genannt.

Böses Kunstlicht

Aber der Paleo-Lifestyle geht noch weiter: Wer sich ihm ganz verschreibt, steht mit der Sonne auf und geht mit den Hühnern schlafen. Weil das in einer modernen Großstadt schwierig ist, werden Brillen angeboten, die das "böse" Kunstlicht filtern, sollte man im Winter doch nach 16 Uhr noch nicht im Bett sein. Diese "amber goggles" setzt man einfach auf, wenn etwa abends das Handy läutet und die filtern den blaue Lichtanteil, der uns angeblich den Schlaf verdirbt. So springen wir am nächsten Morgen ausgeruht wie nichts und ohne Wecker aus dem Bett.

"Was mir abgeht: Die Milchprodukte. Damit fällt der wichtigste Kalziumlieferant weg-– das ist für die Knochengesundheit besonders für Kinder schwierig. Kalzium wird ja bis zum 30. Lebensjahr eingelagert, dann abgebaut", sagt die Ernährungswissenschafterin Eva Unterberger zur Paleo-Ernährung. Ein Problem sieht sie auch dann, "wenn Hülsenfrüchte nicht vorgesehen sind". Denn Paleo-Diät ist nicht gleich Paleo-Diät: Manche sehen etwa Sojabohnen am Speiseplan vor, andere nicht.

Viel Fleisch

"Industrialisierte" Lebensmittel werden in der Regel abgelehnt. An sich nichts Schlechtes, aber: "Man darf nicht vergessen, dass der durchaus positive Verzicht auf vorgefertigte Lebensmittel zeitintensiv und teuer ist", sagt Unterberger. Außerdem, so wird an der Paleo-Diät oft kritisiert, verbessere der hohe Fleischkonsum sicher nicht den ökologischen Fußabdruck.

Trotzdem kann Unterberger dem Trend auch Gutes abgewinnen: "Man muss ja nicht gleich bis in die Steinzeit zurückgehen - vielleicht nur zwei Generationen zu der unserer Großeltern: mit weniger hochindustrialisierten Lebensmitteln, Eiern, Obst und Gemüse aus dem eigenen Garten. Damit vermeiden wir auch Müll."

Genügend Kalzium

Der Ernährungsmediziner Kurt Widhalm sagt zur Paleo-Ernährung: "Der Mensch ist grundsätzlich ein Allesfresser. Echte Landwirtschaft und damit der Gebrauch von Milch haben erst vor rund 10.000 Jahren begonnen. Deswegen kommt der Mensch ohne Milch aus, wenn er durch andere Produkte mit Kalzium und Vitaminen versorgt wird.

Kalzium kommt ja auch in pflanzlichen Produkten und in Fleisch vor. Der Kalziumbedarf ist wahrscheinlich gar nicht so hoch, wie meist gesagt wird - statt ein Gramm und mehr reichen wahrscheinlich 600-800 Milligramm. Und dieser Bedarf kann etwa auch durch Muscheln und Algen gedeckt werden." Außerdem könne der Mensch "mit geringsten Kohlenhydratmengen ausgekommen, auch Ballaststoffe sind nicht essentiell."

Auf die geringe Lebenserwartung in der Steinzeit angesprochen, sagt er: "Die Menschen sind ja nicht an Kalziummangel, sondern in der Regel an Infektionen gestorben. Das ist eine der größten Errungenschaften der Medizin der letzten 50 Jahre, dass die Menschen in Industrienationen nicht mehr an Infektionen sterben müssen. Heute sterben sie meist an Karzinomen oder an Erkrankungen des Herz- Kreislaufsystems." (Tanja Paar, derStandard.at, 10.10.2014)